Aufbruch - Roman
History 4 , sagte das Deckblatt. M. E. Jahn: Dr. Beringer and the Würzburg Lügensteine . Die Seiten 138 bis 146 hatte Godehard kopiert. Wortlos. Grußlos. Die Lügensteine waren wahr. Nicht Godehard hatte sie erfunden. Erfunden hatten sie Jahrhunderte zuvor zwei Wissenschaftler, um einem Dritten ihrer Zunft, Dr. Beringer, einen Denkzettel zu verpassen. Von einem der beiden Betrüger in weichen Stein geschnitten, hatten sie die Gebilde vergraben und wieder ausbuddeln lassen.
Kopfschüttelnd betrachtete ich die Abbildungen: Mond und Sterne, eine lachende Sonne, eine in sich gekrümmte, grinsende Made, zwei Frösche hinter- und übereinander, »love-making« sagte der englische Text. Rund zweitausend solcher »Petrifizierungen« lieferten die Hilfskräfte der beiden Betrüger bei Beringer ab, der sie dafür reichlich entlohnte. Wie sehr geblendet von wissenschaftlichem Ehrgeiz musste er gewesen sein, um derart bereitwillig auf diese absurden Fälschungen hereinzufallen und ihnen eine umfangreiche gelehrte Abhandlung angedeihen zu lassen. Doch nicht Ehrgeiz allein, auch die Phantasie hatte mitgespielt. Beringer hatte gesehen, was er sehen wollte. So, wie Anke, Astrid, Monika bei meiner Ferienerzählung gehört hatten, was sie hören wollten.
»Siehst du, ich lüge nicht«, hatte Godehard mir mit diesen Seiten über die Lügensteine sagen wollen. Du hast mir unrecht
getan, als du mir nicht geglaubt hast. Und wirklich: Die guten Erinnerungen hätten womöglich die Oberhand gewonnen, hätte sich über kopulierende Frösche, grinsende Sonnen, eine Spinne im Netz nicht das lachende Gesicht der toten Braut gelegt. Auch Verschweigen war Lügen. Nichtgesagte Worte konnten verlogen wie gesagte Worte sein.
Hatte Godehard gelogen, so wie ich vor Jahren gelogen hatte, als ich die grüne Vase im Kindergarten zerbrochen hatte? Als ich etwas verbergen wollte, was ich wirklich getan hatte? Hatte Godehard gelogen, als er mir den Tod seiner Braut, unsere Ähnlichkeit verschwiegen hatte? Es gab ein Lügen, das Leugnen hieß. Es gab ein Lügen, das Verschweigen hieß. Und es gab ein Lügen, das Erfinden hieß. Eine Erfindung wurde zur Lüge, wenn sie leugnete, erfunden zu sein.
»Sieh dir das an!«, legte ich Bertram am Abend die Abhandlung über die Lügensteine aufs Bett.
»Erzähl«, sagte er nach einem Blick darauf. Konnte sich kaum noch einkriegen beim Anblick der Frösche, der Spinne, der Made. »Klasse Idee«, gluckste er anerkennend.
»Siehs de«, sagte er und gab mir die Blätter zurück, »wie ich gesagt hab: Der Godehard ist ne trübe Tasse, aber nett. Eigentlich schade.«
»Bertram!«
»Ist doch wahr. Was nützt ihm all das viele Geld, wenn er die nicht kriegt, die er gern hätte!«
»Kriegt ja sonst alles.«
»Ach, jetzt stell dich nicht blöd. Tut es dir nicht doch manchmal leid? Mal ehrlich!«
»Ehrlich!« Nun konnte ich mich doch nicht mehr zurückhalten. »Von wegen ehrlich! Wusstest du, dass der Godehard schon mal verlobt war? Aber richtig mit Anzeige und so?«
»Ne. Na und?«
»Wusste ich auch nicht. Bis heute. Und dann ist ihm die Braut gestorben.«
»Mannomann! Dä ärme Kääl!« Auch Bertram fiel gern ins Rheinische, wenn es um Gefühle ging. Man wusste dann nie, war es innig oder ironisch gemeint. Wahrscheinlich beides.
»Jaja«, sagte ich. »Jaja.« Wie viel schwieriger war es doch, eine einzige kränkende Tatsache auszusprechen, als eine lange Geschichte mit vielen Einzelheiten zu erfinden. »Ich seh diesem toten Mädchen ähnlich wie ein Zwilling.«
»Hä?«, machte Bertram. »Woher wills de das wissen?«
»Mannomann«, sagte er noch einmal, nachdem ich von meinem Besuch beim Buchhändler erzählt hatte. Und dann noch einmal: »Dä ärme Kääl!«
»Bertram!« Ich schoss aus den Kissen. »Wer ist hier ne ärme Kääl. Doch wohl ich!«
»Mensch, überleg mal«, auch Bertram riss es hoch. »Da denkt der, es geht weiter, und dann hört es schon wieder auf. Fast so wie zweimal gestorben.«
»Und ich?«, erregte ich mich. »Genau wie du sagst: Der dachte, es geht weiter. Für den. Für mich fing es aber erst an. Und es hätte für uns beide anfangen müssen. War doch von Anfang an verlogen! Ich bin jedenfalls Ich. Und lebendig!«
»Hast ja recht«, räumte Bertram ein. »Aber sei doch nicht so streng. Hätte er dir ja sicher noch gesagt. Er hat sich bestimmt nicht getraut. Ist ja auch sowieso aus.«
»Sich nicht getraut?«, äffte ich. »Glaubst du doch selber nicht.«
»Er hat es aber
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