Aufbruch - Roman
Mann.
Doch Monika konnte es kaum erwarten.
Ich holte aus. In meinem Tagebuch war ich, wenn mir meine Geschichte zu intim wurde, in Präteritum und Konjunktiv geflüchtet, hatte direkte in indirekte Rede gekehrt, Gegenwart in Vergangenheit entrückt, hatte Distanz geschaffen, das Geschehen entschärft. Vor meinem aufmerksamen Publikum musste ich zurück in den Indikativ, Farbe bekennen in der Wirklichkeitsform.
Ja, er hatte mich geküsst: »Kust er mich? Wol tûsentstunt. Seht, wie rôt mir ist der munt«, war in meinem Tagebuch zu lesen und: »Cui labella mordebis?« Sellmer hatte mich diese Zeile übersetzen lassen und sich an meinem verlegenen Stottern geweidet, als ich, gegen besseres Wissen, übersetzt hatte: »Wen willst du mit den Lippen zerbeißen? Vulgo: ermorden.« Nichts da, hatte der Lateinlehrer auf dem Recht von Sprache und Dichtung bestanden und mich genötigt, auszusprechen, was ich auf
Anhieb als richtig erkannt hatte: Cui war Dativ, labella Akkusativ. Klare Sache, die Lippen waren es, die zerbissen wurden. Cui labella mordebis? Wem wirst du die Lippen zerbeißen?
Aber ein Kuss, einfach so, ganz ohne schmückendes Beiwerk? Ohne eine Möglichkeit, mich hier in der Milchbar vor finnischen Lippenbissen, Zungen und Zähnen in Sicherheit zu bringen?
Ins Wildpflaumengebüsch rettete ich mich, im Wildpflaumengebüsch, entschied ich, hat er mich geküsst.
Wir waren barfuß, und vorher riss er einen abgestorbenen Wildpflaumentrieb aus. Der hatte einen dicken Knubben an der Stelle, wo früher die Wurzeln angefangen hatten; die waren schon vermodert. Mit dem Knubben am Ende …
Monika räusperte sich. Ich faselte weiter. Schwadronierte. Und erfuhr mit Erstaunen, dass in der Tat ein Wort das andere ergab. Dimidium facti, qui coepit habet, hatte ich bei Horaz gelesen. Wer begonnen hat, hat die Hälfte getan. Anfangen ist die Hälfte des Ganzen.
Karst und Ginster, Oliven- und Pflaumenbäume, alles, was der Polyglott hergab, bot ich auf. Seeigel hatten wir gefangen und gegessen, roh und rot aus der stachligen schwarzen Schale, und einmal sogar einen Tintenfisch harpuniert. Neben einer Pergola, umrankt vom Wein, der schon Trauben trug, ließ ich eine Zwiebel keimen, ließ sie blühen und duften. Die Landschaft überwucherte die Leidenschaft.
Interessierte aber nicht.
Die exotische Kulisse, Novi Vinodolski, war im Grunde überflüssig. Ebenso gut hätte ich mich in Schneizlreuth oder Hemmelrath verlieben können. Worauf es ankam, war überall und jederzeit dasselbe. Orte und Epochen waren Verkleidungen, die sich leichthin lösen ließen, darunter trafen sich die immergleichen Sehnsüchte und Gefühle.
Aufpassen musste ich nur, dass ich mich nicht in meiner Welt verlor, mich nicht zu weit von meinen Zuhörerinnen entfernte. Doch zu ähnlich durfte ich ihren Erfahrungen auch nicht sein. Die richtige Spur zwischen Nähe und Distanz, zwischen meinen
Erfindungen und ihren Erfahrungen musste ich einhalten, ihre Erwartungen wecken und erfüllen, ihre Sehnsucht wachhalten und stillen in einem. Sie nähren, ohne sie zu sättigen. Das Geheimnis der Liebe. Das Geheimnis der Kunst.
Immer wieder schaute die Bedienung, eine junge Frau, kaum älter als wir, zu uns herüber. Gern hätte ich meine Stimme erhoben, hätte erprobt, ob meine Erfindungen auch sie, eine Fremde, zu fesseln vermochten. Doch meine Zuhörerinnen reckten mir die Köpfe entgegen, bestanden auf Vertraulichkeit, was das Gewicht meiner Offenbarungen zweifellos verstärkte. Verschwörerisch hingen wir über unseren Gläsern, und ich spendierte noch eine Runde, wollte nicht aufhören zu erzählen, wollte nicht heraus aus meiner Welt, in der alles war, wie ich es wollte, alles war wie wahr. Ich bestimmte, was stimmte. Auch wenn ich auf dem Papier weit ausgiebiger und ungestörter als hier vor meinem Publikum Schicksal, Schöpfer, Erfinder sein und in phantastischen Welten schwelgen konnte.
Der wahre Grund für meine geschwätzige Freigebigkeit - immerhin musste ich anderthalb Stundenlöhne für unsere Milchshakes opfern - war ein anderer. Ich genoss, dass mir die drei an den Lippen hingen, dass sie ganz Ohr waren, dass ich sie meiner Stimme unterwerfen konnte, dass sie mir folgten durch den jugoslawischen Karst unter Pflaumenbäume, wo der Hammel briet überm Lauch; dass sie mit mir schwammen, weit hinaus, und sahen, wie uns Eero im Schlauchboot folgte bis hinüber zur Insel Krk; dass sie mit uns den Kolo tanzten und auf der Terrasse standen, im
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