Auferstehung 3. Band (German Edition)
kam, gegeben hatte. Nechludoff hatte ihn gefragt, ob er buchstabieren könne. »Gewiß,« hatte das Kind geantwortet. – »Nun, buchstabiere mir einmal das Wort Schnauze.« – »Ja, was für eine Schnauze, eine Hundeschnauze oder eine Ochsenschnauze?« hatte der kleine Junge mit verständnisinniger Miene gerufen. In derselben Weise beantworteten die von Nechludoff angerufenen Autoren die einzige Frage, die ihn beschäftigte. Er las sie noch weiter, gab aber immer mehr die Hoffnung auf, aus ihnen Nutzen zu ziehen. Dennoch schrieb er diesen Mangel nur dem oberflächlichen Charakter der kriminologischen Wissenschaft zu, und so hatte er sich bis dahin versagt, eine radikalere Antwort auf diese Fragen zu geben, die sich ihm doch in der letzten Zeit mit immer größerer Klarheit aufdrängte.
Achtes Kapitel
Der Aufbruch der Sträflingsabteilung, zu der die Maslow gehörte, war endgültig auf den 4. Juli festgesetzt, und Nechludoff beschloß, an demselben Tage abzureisen. Er benachrichtigte seine Schwester, die am Tage vor der Abreise ihres Bruders mit ihrem Manne nach der Stadt kam. Nechludoffs Schwester, Natalie Iwanowna Ragojinska, war zehn Jahre älter als er und hatte einen großen Einfluß auf seine Erziehung gehabt. Als Kind hatte sie ihn sehr geliebt, und später, bis zu ihrer Heirat, hatte sie eine vollständige Uebereinstimmung in Gefühlen und Ideen noch stärker miteinander verbunden. Das junge Mädchen war damals in Nikolaus Irteneff, den intimen Freund und Vertrauten ihres Bruders, verliebt.
Dann waren Bruder und Schwester heruntergekommen, Nechludoff durch seinen Verkehr in der Gesellschaft, seine Schwester durch ihre Heirat. Sie hatte einen Menschen geheiratet, den sie rein sinnlich liebte, der aber keinen Geschmack an dem fand, was ihr Bruder und sie früher als das Ideal des Guten und Schönen betrachtet hatten. Und ihr Mann hatte nicht nur keinen Geschmack am Idealen, sondern er war auch unfähig, es zu begreifen. Dieses Streben nach der moralischen Vollkommenheit, dieser Wunsch, sich den Menschen nützlich zu machen, alles, was das Herz Nataliens erfüllte, legte ihr Mann einzig und allein in der ihm verständlichen Weise aus, indem er es auf Rechnung eines raffinierten Egoismus schrieb, dem sich ein krankhafter Wunsch, alles in Erstaunen zu setzen und sich bewundern zu lassen, hinzugesellte.
Ragojinski war ein Mann ohne Vermögen und von geringer Herkunft; doch durch seine natürliche Oberflächlichkeit, seine Neigung zur Intrigue und vor allem die Gabe, den Frauen zu gefallen, hatte er eine ziemlich glänzende Karriere im Beamtenstande gemacht. Er zählte schon fast vierzig Jahre, als er im Auslande die Bekanntschaft Nechludoffs machte, sich die Liebe Nataliens erworben und sich fast gegen die Einwilligung der Mutter, die diese Heirat als eine Mesalliance betrachtete, mit ihr verheiratet hatte.
Nechludoff verabscheute seinen Schwager, obwohl er sich dieses Gefühl selbst zu verheimlichen suchte. Er verabscheute ihn wegen der Niedrigkeit seiner Seele, wegen seines beschränkten Geistes und seiner Selbstgefälligkeit; doch noch mehr verabscheute er ihn, weil seine Schwester eine so selbstsüchtige Liebe zu dieser niedrigen Natur hatte fassen und diese Liebe alles Edle und Schöne in ihr hatte ersticken können. Nie konnte sich Nechludoff ohne Schmerz daran erinnern, daß Natascha die Frau dieses dicken Mannes mit dem leuchtenden Schädel geworden war. Selbst die Kinder, die sie gehabt, konnte er nicht so recht lieben, und jedesmal, wenn er erfuhr, daß sie wieder in andern Umständen war, hatte er unwillkürlich die Empfindung, sie hatte sich von neuem in dem Verkehr mit diesem Manne, der ihn anwiderte, eine häßliche Krankheit zugezogen.
Diesmal waren die Ragojinskis ohne ihre Kinder nach der Stadt gekommen. Als sie sich in den besten Zimmern des besten Hotels eingerichtet, ging Natalia Iwanowna aus und ließ sich nach dem alten Hause ihrer Mutter fahren; als sie Dimitri dort nicht fand und von Agrippina Petrowna erfuhr, er wohne nicht mehr dort, begab sie sich sogleich nach dem Gasthofe, in dem er abgestiegen war. Doch auch hier konnte sie ihn nicht finden. Ein schmutziger Diener, der ihr in einem düstern Korridor, in welchem den ganzen Tag über Gas brannte, entgegenkam, erklärte ihr, der »Fürst« wäre nicht zu Hause. Natalia Iwanowna sagte dem Diener, sie wäre die Schwester Nechludoffs, und bat ihn, sie in die von ihm bewohnten Zimmer treten zu lassen, um ihm ein paar Worte zu
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