Auferstehung 3. Band (German Edition)
sein, war es die Gesellschaft auch gegen ihre Eltern, was ihre Verantwortlichkeit nur noch schwerer machte.
Nechludoff hatte zum Beispiel Gelegenheit gehabt, einen rückfälligen Dieb Namens Otschotin kennen zu lernen. Der natürliche Sohn einer Prostituierten, in Tag- und Nachtasylen erzogen und aufgewachsen, hatte dieser Otschotin sicher bis zu seinem dreißigsten Jahre keinen Menschen mit moralischen Gefühlen kennen gelernt, sich schließlich einer Bande Diebe angeschlossen, und so war der Diebstahl sein einziges Handwerk geworden. Dabei besaß er aber eine Art komisches Genie, das ihm die Sympathie aller derjenigen, mit deren er zusammenkam, verschaffte. Während er Nechludoff um Unterstützung anging, konnte er sich nicht enthalten, seine Gefährten, die Richter und alle menschlichen und göttlichen Gesetze zu verspotten.
Ein anderer Gefangener, ein gewisser Feodoroff, hatte einen Greis ermordet und in der Erde vergraben, um ihm ein paar Rubel zu stehlen. Es war ein Bauer, dessen Vater von einem Nachbar jeder Gerechtigkeit zuwider zu Grunde gerichtet worden war. Er selbst, der eine leidenschaftliche, glühende, genußsüchtige Natur besaß, hatte nicht ein einziges Mal in seinem Leben Leute kennen gelernt, die sich mit etwas anderm als dem Genusse beschäftigten, und er hatte nicht ein einziges Mal gehört, daß es für den Menschen etwas anderes in der Welt giebt, als das Vergnügen.
Diese beiden Gefangenen waren Nechludoff lebhaft aufgefallen. Er hatte die Empfindung, beide hätten dem Guten zugeführt werden können, und ihr Verbrechertum käme einfach nur daher, weil die Gesellschaft sich nie um sie gekümmert hatte. Wenn diese mit all ihren Lastern ihm sympathisch waren, so widerten ihn dafür mehrere andere unter den Gefangenen durch ihre Verrohtheit und Grausamkeit an. Doch auch in diesen konnte er nicht den berühmten Verbrechertypus erkennen, von dem die italienische Schule sprach; er sah in ihnen nur Wesen, die ihm persönlich antipathisch waren, ebenso wie viele andere Personen, denen er nicht in den Gefängnissen, sondern in den Salons, im Frack, in der Gala-Uniform oder im Spitzenkleide begegnet war.
Das waren die verschiedenen Arten von Menschen, deren Gesamtheit die Masse der Verbrecher bildete, und die vierte Angelegenheit, die Nechludoff beschäftigte, bestand darin, in Erfahrung zu bringen, warum alle diese Menschen ins Gefängnis geworfen und gemartert wurden, während andere, ihnen ähnliche, ja, teilweise sogar unter ihnen stehende Menschen in Freiheit belassen und betraut waren, über sie zu Gericht zu sitzen und sie zu verurteilen. Nechludoff hatte zuerst die Hoffnung gehegt, in den Büchern eine Antwort zu finden, und hatte sich alle Werke gekauft, die den Gegenstand behandelten. Mit der größten Aufmerksamkeit hatte er die Schriften von Lombroso, Garofalo, Ferri, Maudsley, Tarde und ihrer Kollegen in der Kriminologie studiert, doch diese Lektüre war für ihn nur eine Quelle bitterer Enttäuschungen gewesen. Es passierte ihm dasselbe, was gewöhnlich jedem Menschen passiert, der eine Wissenschaft studiert, nicht um eine Rolle unter den Gelehrten zu spielen, nicht um schreiben, diskutieren und lehren zu können, sondern um auf gewisse einfache, praktische und lebenskräftige Fragen eine Antwort zu finden; die Wissenschaft, die er zu studieren angefangen, antwortete auf taufend feine, ausnehmend gelehrte Fragen, doch auf die Fragen, die ihn beschäftigten, gab sie keine Antwort. Und doch war diese Frage die einfachste von allen. Er fragte sich, wie und mit welchem Recht einige Menschen andere Menschen einsperrten, marterten, verschickten, schlugen und töteten, während sie doch diesen Menschen, die sie marterten, schlugen und töteten, ganz ähnlich waren. Doch anstatt auf diese Fragen zu antworten, fragten sich die Gelehrten, deren Werke er studierte, entweder, ob der menschliche Wille frei ist oder nicht, oder ob ein Mensch einfach nach seiner Schädelform als Verbrecher erklärt werden kann, oder ob der Instinkt der Nachahmung nicht in der Kriminalität eine große Rolle spielt. Die Gelehrten fragten sich ferner, was die Moralität, die Entartung, das Temperament, die Gesellschaft und so weiter und so weiter wäre. Sie studierten auch den Einfluß, den das Klima, die Nahrung, die Unwissenheit, der Hypnotismus, die Leidenschaft und so weiter auf das Verbrechertum ausübte.
Alle diese Werke erinnerten Nechludoff an die Antwort, die ihm einmal ein kleiner Junge, der aus der Schule
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