Auferstehung 3. Band (German Edition)
Unüberlegtheit der Geschworenen. Aber für solche Sachen ist doch der Senat da!«
»Der Senat hat die Berufung verworfen.«
»Dann waren die Annullierungsgründe nicht genügend!« versetzte Ignaz Nikophorowitsch. »Der Senat hat die Sachen an sich nicht zu untersuchen. Doch wenn wirklich ein Justizirrtum vorlag, so hätte man ein Gnadengesuch einreichen müssen.«
»Das haben wir bereits gethan, doch ohne jede Hoffnung auf Erfolg. Man wird im Ministerium eine Untersuchung eröffnen, der Minister wird sich an den Senat wenden, der Senat wird ablehnend antworten, und so wird der Unschuldige wie üblich verurteilt werden!«
»Gestatten Sie, gestatten Sie,« sagte Ignaz Nikophorowitsch mit herablassendem Lächeln. »Erstens wird sich der Minister nicht an den Senat wenden, sondern die Akten des Falles einfordern, und wenn wirklich ein Irrtum vorliegt, seine Schlußfolgerungen ziehen. Dann ist es zweitens durchaus nicht üblich, daß der Unschuldige verurteilt wird. Die Schuldigen werden verurteilt,« fuhr der dicke Mann mit seinem ruhigen Tone und seinem ewigen zufriedenen Lächeln fort.
»Nun, ich bin aber vom Gegenteil überzeugt,« behauptete Nechludoff, der immer zorniger auf seinen Schwager wurde. »Ich bin überzeugt, daß fast die Hälfte der Leute, die die Gerichte verurteilen, unschuldig sind.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie sind unschuldig im gewöhnlichsten Sinne des Wortes, wie dieses Weib unschuldig ist, den Kaufmann vergiftet zu haben, wie es ein Mann ist, den ich in diesen Tagen gesehen habe und der wegen eines nicht begangenen Mordes verurteilt worden ist, wie ein Sohn und eine Mutter an einer Brandstiftung unschuldig sind, die der Ankläger selbst angelegt hat!«
»Ja, gewiß; aber es hat stets Justizirrtümer gegeben und wird stets welche geben. Die menschliche Justiz kann keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit erheben.«
»Aber die große Mehrheit der Verurteilten sind unschuldig, weil sie in gewissen Milieus erzogen sind und die Handlungen, die sie begangen, nicht als Verbrechen angesehen haben.«
»Gestatten Sie! Jeder Dieb weiß, daß der Diebstahl keine gute Handlung ist, daß man nicht stehlen darf, und daß das Stehlen etwas Unmoralisches ist,« sagte Ignaz Nikophorowitsch mit einem leicht ironischen Lächeln, das Nechludoff vollends in Wut brachte.
»Er weiß es durchaus nicht! Man sagt ihm, er solle nicht stehlen; doch er sieht, daß sein Meister ihm seine Arbeit stiehlt, daß die Beamten ihm sein Geld stehlen ...«
»Wissen Sie, daß das, was Sie da sagen, ganz einfach Anarchismus ist,« unterbrach Ignaz Nikophorowitsch mit seinem ruhigsten Tone.
»Es kümmert mich wenig, wie das heißt, was ich sage; ich sage nur, was ist!« fuhr Nechludoff fort, »Dieser Mensch weiß, daß die Beamten ihn bestehlen; er weiß, daß wir, die Besitzer, ihn bestehlen, indem wir das zu unserem Nutzen ausbeuten, was gemeinsames Eigentum sein sollte. Und wenn dieser Mensch sich dann aus unseren Wäldern ein paar Zweige Reisigholz nimmt, um sein Feuer anzuzünden, dann werfen wir ihn ins Gefängnis und reden ihm ein, er sei ein Dieb.«
»Ich verstehe Sie nicht, oder vielmehr, wenn ich Sie verstehe, so muß ich bedauern, mit Ihnen nicht einer Meinung sein zu können! Die Erde muß notgedrungen einem Herrn gehören. Wenn Sie sie heut' in gleiche Teile teilen, so wird sie morgen wieder den Arbeitsamsten und den Fleißigsten zufallen ...«
»Aber es spricht ja auch niemand davon, die Erde in gleiche Teile zu teilen. Die Erde darf niemandem gehören, sie darf kein Kaufs- und Verkaufsobjekt werden.«
»Das Eigentumsrecht ist dem Menschen angeboren. Ohne dasselbe hätte niemand Neigung, die Erde zu bebauen. Unterdrücken wir das Eigentumsrecht, und wir kehren gleich wieder zum Zustand der Wilden zurück,« sagte Ignaz Nikophorowitsch in strengem Tone.
»Gerade das Gegenteil ist wahr! Dann wird die Erde nicht mehr unnütz sein, wie sie es jetzt ist!«
»Hören Sie, Dimitri Iwanowitsch, was Sie da sagen, ist vollständig unsinnig. Ist es denn in unserer Zeit möglich, das Eigentumsrecht zu unterdrücken? Ich weiß, daß Sie diese Manie schon seit langer Zeit haben! Doch gestatten Sie mir, Ihnen offen herauszusagen ...«
Ignaz Nikophorowitschs Gesicht war plötzlich blaß geworden, und seine Stimme hatte zu zittern angefangen. Diese Frage ging ihm offenbar, im Gegensatz zu den vorigen, sehr nahe.
»Ich möchte Ihnen aufrichtig raten, sich diese Sache noch ein bißchen zu überlegen, bevor Sie Ihre Ideen
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