Auferstehung 3. Band (German Edition)
der Stirn und gab einem Adjutanten Befehle.
»Wünschen Sie etwas?« fragte er Nechludoff.
»In einem der Waggons kommt eine Frau nieder, und ich habe gedacht ...«
»Sie kommt nieder? Nun gut, lassen Sie sie doch!« sagte der Offizier und lief mit seinen kurzen, dicken Beinen nach seinem Waggon.
In demselben Augenblick setzte der Zugführer die Pfeife an den Mund. Ein letztes Glockenläuten folgte dem Pfiff, und man hörte, wie sich lautes Abschiedsgeschrei gleichzeitig aus den Waggons und auf dem Perron erhob. Nechludoff, der auf dem Perron stand, sah, wie die schweren Waggons, an deren Fenstern zwischen den Gitterstäben die rasierten Schädel der Gefangenen erschienen, einer nach dem andern an ihm vorüberzogen. Dann kam der erste Frauenwaggon, dann ein anderer, dann der Waggon, in welchem die Maslow saß. Das junge Weib stand noch am Fenster und warf Nechludoff einen letzten Blick zu, zugleich mit einem traurigen Lächeln, das ihn tief rührte.
Zehntes Kapitel
Nechludoff hatte noch zwei Stunden bis zum Abgange des Zuges zu warten, der ihn nach Nischni-Nowgorod bringen sollte. Zuerst hatte er die Absicht, diese Zeit zu benutzen, um seine Schwester wiederzusehen; doch die Eindrücke des Vormittags hatten ihn so bewegt und abgespannt, daß er nicht mehr die Kraft fühlte, sich zu rühren. Er trat in den Wartesaal, setzte sich auf ein Kanapee und schlief dort, den Kopf auf ein Kissen lehnend, nach kurzer Zeit ein.
Er schlief bereits eine Stunde, als ein Geräusch zurückgeschobener Stühle ihn jäh erweckte. Er richtete sich auf, rieb sich die Augen und sah wieder die verschiedenen Scenen vor sich, denen er beigewohnt. Er sah den Zug der Verschickten vor sich, die beiden toten Männer, die Waggons mit den vergitterten Fenstern und die in diese Waggons eingesperrten Weiber, wie auch das traurige Lächeln, mit dem ihm Katuscha durch die Gitterstäbe Lebewohl gesagt. Das Schauspiel, das er vor Augen hatte, war von diesen Erinnerungen grundverschieden; ein mit Flaschen, Vasen, Leuchtern und Blumen beladener Tisch, an dem befrackte Kellner schlummerten, und im Hintergrunde des Saales vor einem ebenfalls mit Flaschen und Vasen beladenen Tisch Reisende, die ihm den Rücken drehten und Reisevorrat einkauften.
Als er wieder zu sich gekommen war, bemerkte Nechludoff, daß alle Personen, die im Salon waren, neugierig etwas betrachteten, das eben an der Eingangsthür vorüberkam. Als er die Augen nach dieser Seite wandte, sah er eine Gruppe von Männern, die eine vollständig in Shawls gewickelte Dame auf einem Stuhle trugen. Der erste Träger war ein Kammerdiener, und Nechludoff erinnerte sich sofort, ihn schon gesehen zu haben. Er erkannte auch den Mann, der hinterher kam, einen Portier in Livree mit gallonnierter Mütze. Neben dem Stuhle stand eine elegante Kammerzofe, die eine Reisetasche, einen runden Gegenstand in einem Lederetuis und mehrere Sonnenschirme trug. Und auf der anderen Seite bemerkte Nechludoff in Reisekleidern den alten Fürsten Kortschagin mit seinen dicken Lippen und seinem schlagflüssigen Hals. Auch Missy war dabei, und ihr Bruder Mitja, und ein junger, Nechludoff wohlbekannter Diplomat, der Graf von Osten, der einen endlosen Hals und ein kleines, stets lächelndes Gesicht besaß. Osten unterhielt sich mit Missy, die sich über seine Scherze sehr zu amüsieren schien. Nechludoff sah auch den Arzt, der mit seiner gewöhnlichen verdrossenen Miene seine Cigarette rauchte. Dieser imposante Zug durchschritt den Saal, um sich in den für die Damen reservierten kleinen Salon zu begeben, und erregte auf seinem Wege eine Neugier, in die sich ein gewisser Respekt mischte. Doch schon im nächsten Augenblick erschien der alte Fürst wieder im Saal, setzte sich an den Tisch, rief den Kellner und erteilte ihm Befehle. Dann erschienen Missy und Osten, und beide wollten sich ebenfalls an dem Tisch niederlassen, als Missy an der Eingangsthür eine Bekannte bemerkte, der sie entgegenlief. Diese Bekannte war Natalia Iwanowna, Nechludoffs Schwester, In Begleitung Agrippina Petrownas eintretend, wandte sie die Augen nach allen Seiten, als suche sie jemand. Sie bemerkte ihren Bruder und Missy gleichzeitig, und als sich Nechludoff ihr näherte, sagte sie, als sie dem jungen Manne die Hand geschüttelt:
»Endlich finde ich dich! Ich verzweifelte schon!« Nechludoff drückte Missy und Osten die Hände, umarmte seine Schwester, und man fing an zu plaudern. Missy erzählte, ihr Landhaus wäre abgebrannt, wodurch sie
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