Auferstehung 3. Band (German Edition)
genötigt seien, einige Wochen bei einer Tante zuzubringen, die auf der Linie nach Nischni-Nowgorod wohnte, Osten erzählte bei dieser Gelegenheit vergnügt Brandgeschichten, doch Nechludoff wandte sich, ohne auf ihn zu hören, an seine Schwester:
»Wie glücklich bin ich, daß du gekommen bist!«
»Ich suche dich seit zwei Stunden,« versetzte sie, »und habe mit Agrippina Petrowna die ganze Stadt durchstreift, ohne dich finden zu können.«
Sie deutete mit dem Kopfe auf die dicke Wirtschafterin, die, in einen Gummimantel gehüllt und einen Hut mit Blumen auf dem Kopfe, bescheiden etwas abseits stand, um die Unterhaltung nicht zu stören.
»Denke dir, ich bin hier auf einem Kanapee eingeschlafen! Wie glücklich bin ich, daß du gekommen bist,« wiederholte er, »Ich hatte gerade einen Brief an dich angefangen!«
»Wirklich?« fragte sie unruhig. »Und was schriebst du mir?«
Als Missy sah, daß Bruder und Schwester eine intime Unterhaltung begannen, glaubte sie, sich mit ihrem Kavalier entfernen zu müssen. Nechludoff führte seine Schwester ans Fenster; dort setzten sie sich auf eine grüne Sammetbank, neben der ein Koffer, ein Plaid und ein Hutkarton lagen.
»Nun denn! Ja! Als ich euch gestern verließ, wollte ich wieder umdrehen und deinen Mann um Entschuldigung bitten,« sagte Nechludoff; »doch ich fürchtete, er könne die Sache schlecht aufnehmen. Ich bin gestern zu deinem Manne recht häßlich gewesen, und das quält mich.«
»Ich wußte es, ich war überzeugt, du hattest nicht die Absicht,« versetzte Natalia Iwanowna.
»Du weißt ...«
Thränen stiegen ihr in die Augen, und sie drückte ihrem Bruder fieberhaft erregt die Hand. Nechludoff verstand sofort den Sinn des Satzes, den sie nicht ausgesprochen hatte. Sie wollte sagen, daß sie, wenn sie auch ihren Mann mehr als die ganze Welt liebte, doch auch ihn, ihren Bruder, sehr lieb hatte, und daß jede Trennung von ihm sie grausam schmerzte.
»Ich danke dir! Ach, wenn du wüßtest, was ich heut' gesehen habe,« fuhr er fort und erinnerte sich plötzlich wieder an die beiden toten Gefangenen. »Zwei getötete Männer!«
»Wieso getötet?«
»Ja, gewiß, getötet. Man hat sie bei dieser Hitze die ganze Stadt durchwandern lassen, und zwei von ihnen sind am Sonnenstich gestorben.«
»Nicht möglich! Wie? Heute? Eben?«
»Ja, eben! Ich habe ihre Leichen gesehen!«
»Aber warum hat man sie getötet? Und wer hat sie getötet?« fragte Natalia Iwanowna.
»Wer? Die sie gezwungen haben, bei dieser Hitze zu gehen,« versetzte Nechludoff in ärgerlichem Tone, denn er fühlte, daß seine Schwester das von einem anderen Gesichtspunkte als er betrachtete.
»Allmächtiger Gott! Ist es möglich?« fragte Agrippina Petrowna, die sich nicht hatte enthalten können, zuzuhören.
»Ja, wir haben nicht die geringste Idee davon, was man diese Unglücklichen erdulden läßt; und doch hätten wir die Pflicht, uns darüber zu unterrichten,« fuhr Nechludoff fort, indem er unwillkürlich die Augen auf den alten Fürsten richtete, der, eine Serviette um den Hals, sich mit Schinken vollstopfte, ohne an etwas anderes zu denken. Doch plötzlich erhob der Greis den Kopf und bemerkte Nechludoff.
»Nechludoff!« rief er. »Wollen Sie sich nicht stärken? Für die Reise ist das unbedingt nötig!«
Nechludoff dankte mit einem Kopfschütteln.
»Nun, was willst du thun?« fuhr Natalia Iwanowna fort.
»Was ich kann! Ich fühle, daß ich auf jeden Fall etwas thun muß! Und was ich kann, werde ich thun!«
»Ja, ja, ich verstehe dich. Und mit ihnen,« sagte sie, auf Kortschagin deutend, »ist alles aus?«
»Alles! Und ich glaube, das wird auf beiden Seiten niemand bedauern.«
»Das ist schade, sehr schade! Ich habe Missy so lieb! Na, ich habe schließlich nichts zu sagen. Aber warum willst du dich von neuem binden?« fragte sie schüchtern; »warum reisest du?«
»Ich reise, weil ich muß!« versetzte Nechludoff in ernstem und trockenem Tone, als wolle er die Unterhaltung abbrechen, doch gleich that ihm dieses Benehmen seiner Schwester gegenüber leid, und er dachte: »Warum soll ich ihr nicht alles sagen, was ich denke? Ich weiß wohl, Agrippina Petrowna hört uns, doch was thut das, mag sie auch hören!«
»Du sprichst von meinem Heiratsprojekte mit Katuscha,« rief er mit zitternder Stimme. »Nun ja; ich habe diesen Plan gefaßt, und zwar schon am ersten Tage, als ich sie wiedergefunden habe; doch sie hat sich klar und entschlossen geweigert, sich mit mir zu
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