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Auferstehung 3. Band (German Edition)

Auferstehung 3. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 3. Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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erzählen, die man ihn erdulden ließ.
    »Sie sind alle gegen mich und quälen mich Tag und Nacht!«
    »Entschuldigen Sie mich,« sagte Nechludoff und verließ, ohne das Ende der Erzählung abzuwarten, das Zimmer, denn er wollte sehen, was man mit dem Toten anfing. Die Polizisten hatten schon den ganzen Hof durchschritten und waren vor einer Kellerthür stehengeblieben. Nechludoff wollte sich ihnen anschließen, doch der Polizeileutnant hinderte ihn daran.
    »Was wünschen Sie?«
    »Nichts,« versetzte Nechludoff.
    »Sie wünschen nichts? Nun, dann gehen Sie Ihrer Wege!«
    Nechludoff drehte sich um und ging zu seinem Fiaker zurück. Der Kutscher schlief auf dem Bock, Nechludoff weckte ihn und sagte ihm, er solle nach dem Bahnhof fahren. Doch noch hatte er keine hundert Schritt zurückgelegt, als er, wieder von einem Soldaten des Zuges begleitet, einer Telega begegnete, auf der ein anderer, bereits toter Gefangener lag. Der Gefangene lag auf dem Rücken; Nechludoff konnte ihn in aller Ruhe betrachten. Ein so nichtssagendes Gesicht der erste Tote gehabt, so schön war dieser an Körper und Gesicht. Es war ein Mann in der Blüte der Jahre. Unter seinem halbrasierten Schädel bemerkte man eine energische, an der Nasenwurzel sich wölbende Stirn. Seine bereits blauen Lippen lächelten unter einem feinen Schnurrbart, und auf der rasierten Seite des Kopfes erschien ein Ohr von sehr reiner Zeichnung. Der Ausdruck des Gesichts war gleichzeitig ruhig, streng und gütig. Und nicht allein das Gesicht bewies, daß möglicherweise moralisches Leben in diesem Manne verloren gegangen war, sondern auch die feinen Knöchel seiner gefesselten Hände und Beine, die allgemeine Harmonie und Kraft der Glieder, alles deutete darauf hin, welch schönes, starkes und kostbares menschliches Geschöpf er gewesen war. Und jetzt hatte man ihn getötet, und es beweinte ihn nicht nur niemand als Menschen, nein, man beweinte auch nicht einmal ein so wunderbares, umsonst zu Grunde gerichtetes Arbeitsinstrument in ihm! Denn Nechludoff sah wohl in den Augen der begleitenden Polizisten, daß das einzige Gefühl, das dieser Tote in ihnen wachrief, der Aerger über die Anstrengung und Plackereien war, die derselbe im Gefolge hatte.
    Er stieß einen tiefen Seufzer aus und setzte traurig seine Fahrt zum Bahnhof fort.
    Als Nechludoff zum Bahnhof kam, waren sämtliche Gefangene schon in den Waggons mit den vergitterten Fenstern untergebracht. Auf dem Perron standen etwa zwanzig Personen, die Verwandten oder Freunden Lebewohl sagen wollten; sie warteten darauf, daß man ihnen erlaubte, sich den Waggons zu nähern. Die Aufseher des Zuges liefen mit zerstreuter Miene hin und her. Auf dem Wege durch die Stadt waren fünf Gefangene vor Hitze gestorben; drei waren unterwegs verschieden und die beiden andern auf dem Bahnhof. [Fußnote: In Moskau starben vor einigen Jahren fünf Gefangene auf der Fahrt von ihrem Gefängnis bis zum Bahnhof von Nischni-Nowgorod infolge übermäßiger Hitze.] Daß die fünf Männer, die ihrer Obhut anvertraut gewesen, gestorben waren, das kümmerte sie wenig, obwohl die geringste Vorsicht genügt hätte, sie am Leben zu erhalten. Darum kümmerten sie sich wenig, sie kümmerten sich nur darum, daß sie auch alle vom Reglement in solchem Falle vorgeschriebenen Formalitäten erfüllten, die Toten in die Hände der kompetenten Behörden ablieferten, alle ihnen gehörigen Gegenstände beiseite legten und die Namen auf der Liste der nach Nowgorod gebrachten Gefangenen ausstrichen; das alles verursachte ihnen große Verlegenheit, die die erdrückende Hitze noch qualvoller gestaltete.
    Sie liefen also aufgeregt nach rechts und links und hatten beschlossen, niemand an die Waggons heranzulassen, bevor nicht alles in Ordnung gebracht war. Trotzdem erhielt Nechludoff die Erlaubnis, näherzutreten; er erhielt dieselbe dadurch, daß er einem der Unteroffiziere des Zuges einen Rubel gab, und dieser bat ihn nur, nicht allzu lange zu bleiben, so daß er von dem Offizier nicht gesehen wurde.
    Der Zug bestand aus achtzehn Waggons, die sämtlich, mit Ausnahme des für die Offiziere bestimmten Waggons, mit Gefangenen buchstäblich voll gestopft waren. Als er an den Waggonfenstern vorüberkam, hörte Nechludoff überall Kettengerassel, Gezänk und mit Schimpfworten vermischte Worte; doch nirgends sprach man von den Gefährten, die auf dem Wege umgefallen waren. Die Unterhaltung und das Gezanke betraf hauptsächlich das Gepäck der Gefangenen, die Wahl der

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