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Auferstehung 4. Band (German Edition)

Auferstehung 4. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 4. Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Mühlstein und das Meer damit zu thun? Nein, das alles ist nichts für mich! – Das ist nicht klar, das hat keinen Sinn!«
    Er erinnerte sich, daß er schon mehrmals in seinem Leben versucht hatte, die Evangelien zu lesen, und daß ihn die Unklarheit solcher Stellen stets verwirrt hatte.
    Trotzdem nahm er das Buch wieder zur Hand und las die nun folgenden Verse. Jesus sprach darin von den »Aergernissen«, von »der Verurteilung gewisser Menschen«, von dem »höllischen Feuer«, von »gewissen Engeln, die gewissen Kindern angehören« und »das Angesicht des Vaters im Himmel sehen«.
    »Wie schade, daß das alles so unklar und so schlecht ausgesprochen ist!« dachte er; »denn man fühlt, daß es im Grunde etwas Schönes ist, das man gern besser gesagt sehen möchte.« Und er begann weiter zu lesen:
    11. Denn des Menschen Sohn ist gekommen, selig zu machen, das verloren ist.
    12. Was dünket euch? Wenn irgend ein Mensch hundert Schafe hätte, und Eins unter denselben sich verirrte: läßt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen, gehet hin, und suchet das verirrte?
    13. Und so sich's begiebt, daß er es findet, wahrlich, ich, sage euch: Er freuet sich darüber mehr, denn über die neunundneunzig, die nicht verirrt sind.
    14. Also ist es auch von eurem Vater im Himmel nicht der Wille, daß jemand von diesen Kleinen verloren werde.
    »Ja, gewiß, das war nicht der Wille des Vaters, daß sie verloren gehen! Aber deshalb gehen sie doch zu Hunderten, zu Tausenden zu Grunde. Und es giebt kein Mittel, sie zu retten!« dachte Nechludoff.
    Er las noch einige Verse.
    21. Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist es genug siebenmal?
    22. Jesus sprach zu ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal.
    23. Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte.
    24. Und als er anfing zu rechnen, kam ihm Einer vor, der war ihn: zehntausend Pfund schuldig.
    25. Da er es nun nicht hatte zu bezahlen, hieß der Herr verkaufen ihn und sein Weib und seine Kinder und alles, was er hatte, und bezahlen.
    26. Da fiel der Knecht nieder und betete ihn an und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, ich will ja alles bezahlen.
    27. Da jammerte den Herrn desselben Knechtes, und ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch.
    28. Da ging derselbe Knecht hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig, und er griff ihn an und würgte ihn und sprach: Bezahle mir, was du mir schuldig bist!
    29. Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir, ich will dir alles bezahlen.
    30. Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis daß er bezahlte, was er schuldig war.
    31. Da aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten vor ihren Herrn alles, was sich begeben hatte.
    32. Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest;
    33. Solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmet habe?
    »Sollte es das sein?« rief Nechludoff plötzlich, nachdem er diese Worte gelesen. »Sollte die Antwort, die ich suche, darin liegen?«
    Und die geheime Stimme seines ganzen Wesens antwortete ihm: »Ja, das ist's, nur das ist es!«
    Und dasselbe Phänomen vollzog sich bei Nechludoff, das sich, bei all den Personen vollzieht, die mit dem geistigen Leben vertraut sind. Ein Gedanke, der ihnen zuerst seltsam, paradox, phantastisch erschienen, klärt sich plötzlich in ihren Augen durch die Resultate einer unbewußten Erfahrung auf und wird für sie sofort zur einfachen, klaren, deutlichen Wahrheit.
    So ward ihm plötzlich, der Gedanke klar, daß das einzig mögliche Mittel gegen das Leiden, an dem die Menschen krankten, darin bestand, daß sie anerkannten, sie hätten eine Verpflichtung gegen Gott und infolgedessen kein Recht, über andere zu Gericht zu sitzen und sie zu bestrafen. Er begriff plötzlich, daß das schreckliche Leiden, dessen Zeuge er in den Gefängnissen und auf den Transportzügen gewesen, sowie die ruhige Sicherheit derer, die dieses Uebel verursachten oder duldeten, eine sehr einfache Ursache hatte. Das kam alles daher, daß die Menschen etwas Unmögliches unternommen hatten, denn sie waren sehr schlecht und wollten das Böse abschaffen. Lasterhafte Menschen wollten lasterhafte Menschen bessern. Da sie

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