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Auferstehung 4. Band (German Edition)

Auferstehung 4. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 4. Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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das ganze Elend und an die ganze Häßlichkeit des augenblicklichen Lebens der Menschen, und dachte daran, wie sich dieses Leben wohl gestalten würde, wenn die Menschen die Vorschriften befolgten, die er eben gelesen. Und seine ganze Mutlosigkeit schwand, ein Strom von Begeisterung schwellte seine Seele. Er fühlte, daß er nach einem Leben des Leidens in der Finsternis plötzlich das sanfte, kräftigende, wohlthätige Licht erblickt.
    In dieser Nacht schlief er nicht. Ganz der Freude über die Entdeckung, die er eben gemacht, sich hingebend, las er eifrig die Evangelien von einem Ende bis zum andern. Und wie es allen geschieht, denen sich die allgemeine Bedeutung der Evangelien endlich enthüllt hat, so wunderte er sich beim Lesen, daß er jetzt vollständig den Sinn von Worten begriff, die er so manchesmal als einfache Bilder gelesen, ohne ihnen die geringste Bedeutung beizulegen. Wie ein Schwamm in einem Gefäß all das Wasser aufnehmen möchte, das es enthält, so wollte er alles in sich aufnehmen, was in diesem Buche Nützliches, Bedeutendes, Ernstes und Fröhliches für ihn enthalten war. Und alles, was er las, schien ihm seit langer Zeit vertraut, denn was er las, bestätigte und erklärte ihm Dinge, die er seit langer Zeit ahnte, die er aber nicht als wahr anzuerkennen wagte. Jetzt aber erkannte er sie als wahr und glaubte daran.
    Und er erkannte nicht nur und glaubte, daß die Menschen, wenn sie den Vorschriften der Evangelien folgten, sich zum höchsten Grade des Glückes erheben könnten, dessen sie fähig sind; nein, er erkannte auch und glaubte, daß es für einen Menschen besser war, lieber gar nichts zu thun, als diesen Vorschriften nicht zu folgen; er erkannte und glaubte, daß diese Vorschriften die einzige Daseinsberechtigung des menschlichen Lebens verkörperten, und daß der Mensch, wenn er sie verletzte, eine Schuld beging, die ihre Strafe sofort nach sich zog.
    Diese Schlußfolgerung ging für Nechludoff aus dem ganzen Buche hervor; doch mit ganz besonderer Klarheit und Kraft fand er sie in der Parabel von den Arbeitern im Weinberge ausgedrückt. Die Arbeiter hatten sich eingebildet, der Garten, den man ihnen zum Bebauen gegeben, gehöre nicht ihrem Herrn, sondern ihnen selbst; alles, was sich in diesem Garten befände, wäre für sie bestimmt, und ihre einzige Pflicht wäre es, diesen Garten ihrem eigenen Vorteile dienstbar zu machen; so vergaßen sie denn ihren Herrn und töteten die, die sie an ihre Verpflichtungen ihm gegenüber erinnerten.
    »So handeln wir alle!« dachte Nechludoff. »Wir leben in dem Glauben, wir seien selbst die Herren unseres Lebens, und dieses sei uns nur zu unserem Vergnügen gegeben. Was ist aber eine unsinnige, vollständig unsinnige Annahme. Der Mensch ist nicht zu seinem Vergnügen in die Welt gekommen, es muß ihn jemand aus irgend einem Grunde dorthin geschickt haben. Wir aber haben diese Thatsache vergessen, und bilden uns ein, wir lebten nur zu unserem Vergnügen. Dann wundern wir uns, daß wir leiden und uns unbehaglich fühlen, als wäre das nicht die notwendige Folge unserer Lage als Arbeiter, die dem Willen ihres Herrn nicht nachkommen wollen. Der Wille unseres Herrn aber ist in diesem kleinen Buche ausgesprochen.«
    »Trachtet nach dem Himmelreich, und das übrige wird euch von selbst zufallen.« Wir aber suchen nur das übrige, und wundern uns dann, wenn wir es nicht finden können.«
    »Ja, so ist mein Leben gewesen, doch dieses Leben ist jetzt vorüber, und ein anderes beginnt.«
     
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    Und thatsächlich begann von dieser Nacht an für Nechludoff ein neues Leben; neu nicht nur, weil er vollständig aufhörte, an sich selbst zu denken, und nur noch lebte, um den andern zu dienen, sondern vor allem auch darum neu, weil alles, was ihm seit dieser Nacht zustieß, alles, was er that, alles, was er sah, von nun an in seinen Augen eine andere Bedeutung als früher hatte.
    Wie diese neue Periode seines Lebens enden wird, wird die Zukunft lehren.

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