Aufgeflogen - Roman
Selten, dass wir einen ganzen Nachmittag zusammen verbrachten. Sie habe noch zu tun, sagte sie. Was genau, das erzählte sie mir nicht. Sie müsse ihrer Mutter helfen, hieß es einmal. Sie habe einen Arzttermin, sagte sie ein andermal. Sie müsse ein bisschen nebenher jobben, weil sonst das Geld nicht reiche. Ich glaubte ihr. Doch meinen Vorschlag, sie von der Arbeit abzuholen, lehnte sie ab.
Ich hatte mein Leben geändert für jemanden, der in meinem Leben gar keine große Rolle spielen wollte.
So viele Fragen, auf die ich nur kurze und ausweichende Antworten bekam.
Wie ist das Leben in Kolumbien?
Warum seid ihr dort weg?
Hast du noch Verwandte?
Machst du dort Urlaub?
Wann warst du das letzte Mal zu Hause?
Die Irritation im Blick bei meinem Vorschlag, nach dem Abitur gemeinsam in ihre Heimat zu fliegen.
Hatten wir gerade noch verliebt zusammen auf dem Sofa gelegen, hatten gekuschelt, gelacht, geträumt,war auf einmal alles anders. Sie lag immer noch da, aber sie machte zu. Eine falsche Frage und die Nähe verflüchtigte sich wie ein Duft.
Ich fragte nicht weiter wegen der Geschichte mit der Ampel. Ließ die Sache auf sich beruhen. Aber ich hatte mein Vertrauen in sie verloren, und sie ging mir aus dem Weg, um nicht über sich reden zu müssen.
Nie hätte ich mir vorstellen können, so etwas zu tun. Aber ich tat es doch. Ich spionierte ihr nach. Denn mein Gefühl sagte mir, dass ich mehr über sie wissen wollte und sollte. Außerdem hatte ich die Lügen und Geheimnisse satt.
Sie fühle sich nicht so gut und wolle nach Hause, sagte sie, als ich sie nach der Schule fragte, ob sie mit zu mir kommen wolle. Sie nahm die U-Bahn am Bayerischen Platz. Ich ließ meinen Roller stehen und folgte ihr.
Sie stieg am Mehringdamm aus – wohnte sie hier in der Gegend?
Ich ging ihr nach. Vorsichtig, immer voller Angst, sie würde sich umdrehen und mich sehen. Ich bemerkte ihren wachsamen Blick nach allen Seiten. Aber ich war klug genug, Abstand zu halten.
Sie bog in die Bergmannstraße ein. Fast verlor ich sie, weil sich ein Pulk Touristen zwischen uns beideschob. Die Gruppe belagerte ein Straßencafé. Stühle wurden gerückt, Tische verschoben. Mit Mühe kam ich durch und sah gerade noch, dass Isabel in einem Torbogen verschwand.
Ich kam zu spät. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Ob sie einen der Eingänge im Hinterhof genommen hatte? Aber welchen?
Da hörte ich ihre Stimme. Leise, aber eindeutig. Sie hatte offenbar die Haustür gleich hinter dem Torbogen genommen. Die führte in einen Flur, in dem es nach Essen roch. Der Hintereingang zu einem gutbürgerlichen Berliner Lokal.
Ich guckte in den Flur. Ein Kellner lief in die Küche, eine Küchenhilfe kam heraus zum Rauchen, sah mich argwöhnisch an. Hier konnte ich nicht stehen bleiben und beobachten. Also ging ich langsam weiter durch den Flur in Richtung Toiletten. War das gar nicht ihr Zuhause? Arbeitete sie hier? Als Bedienung? Ich wollte wissen, was sie machte. Aber ich wollte nicht von ihr dabei erwischt werden. Mir war klar, dass sie sauer würde. Für Isabel wäre das ein Vertrauensbruch. Ihr Verhalten und ihre Geheimnistuerei hingegen fand sie normal. Langsam ging ich von den Toiletten zurück durch den Flur. Die Küchenhilfe hatte gerade ihre Zigarette ausgedrückt, kam von draußen herein und öffnete die Tür zur Küche. Da sah ich sie. Sie stand an der Spülmaschine und räumte Teller aus.
Warum hatte sie mir nicht gesagt, wo sie arbeitete? Mir war doch klar, dass sie dazuverdienen musste. Anfangs hatte ich sie oft eingeladen, auf einen Kaffee, ins Kino. Aber inzwischen weigerte sie sich häufiger, etwas anzunehmen. Deshalb waren wir häuslich geworden. Mir war es egal, ich war gerne mit ihr allein. Aber meistens war ich ohne sie allein.
Ich setzte mich in ein Straßencafé gegenüber und wartete. Trank einen Kaffee nach dem anderen. Stunden vergingen. Ich war wütend auf mich. Warum tat ich mir das an? Warum traf ich mich nicht mit Ben und den anderen? Ich sollte wieder mehr an mein eigenes Leben denken. Isabel ließ mich in ihres ja nicht hinein.
Doch da kam sie heraus. Ich zahlte und folgte ihr. Es war genug los, sie konnte mich in diesem Gewusel nicht entdecken. Sie merkte nichts. Ging zu Fuß weiter. Zur Kirche am Südstern, dann die Graefestraße hinauf in den weniger schicken Teil Kreuzbergs. Ich folgte ihr, beeindruckt von ihrem schnellen Tempo. Ich war selten in dieser Gegend, aber Isabel ließ mir wenig
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