Aufgeflogen - Roman
enden. Sie hatten doch die letzten Monate immer wieder gemeinsam überlegt, wie es mit ihnen weitergehen würde, wenn sie zurück nach Kolumbien musste. Hatte er nicht gesagt, er würde sie besuchen, er würde sie ganz nach Deutschland holen, wenn er erst fertig studiert hätte?
Eine Abtreibung kam für sie nicht infrage. Das wusste sie sofort.
Am liebsten hätte sie ihm sein Geld zurückgeschickt.
Aber sie behielt es. Für die Zukunft ihres Kindes.
»Ich komme aus einer armen Familie«, erzählte Eugenia. »Meine Eltern und Geschwister wollten mich unterstützen, aber sie konnten es kaum. Wir Kolumbianer lieben Kinder, wir tun alles für die Familie. Aber es gibt wenig Hilfe vom Staat, ein guter Kindergarten, eine gute Schule, das kostet alles viel Geld. Da dachte ich, wie schön doch mein Studienjahr in Deutschland gewesen war. Die Menschen waren ernster als bei uns, aber das Leben war auch nicht so chaotisch. Es herrschen nicht einzelne Clans, die die Menschen terrorisieren, sondern man hält sich an Recht und Gesetz.«
Ob sie das immer noch denkt, fragte ich mich, aber ich wollte sie nicht unterbrechen.
»Ich stellte mir immer wieder vor, wie es wäre, wenn ich Johannes wiedersehen würde. Manchmal glaubte ich, dass er mich immer noch liebte. Und dass er vor allem seine Tochter lieben würde, wenn er sie erst sehen könnte.«
»Haben Sie … hast du ihm geschrieben?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich war sehr naiv, ich wollte einfach aus Kolumbien weg.«
Als Isabel drei Jahre alt war, nahm sie das Geld, das Johannes ihr für die Abtreibung geschickt hatte, und flog damit nach Deutschland. Für ein neues Leben, mit ihm oder ohne ihn. Sie war sicher, ihre Tochter hätte hier eine bessere Zukunft als in Kolumbien.
Anfangs suchte sie nach dem Vater ihres Kindes. Doch in Bochum, wo sie sich kennengelernt hatten, war er nicht mehr. Sie fragte alte Bekannte aus ihrer Zeit als Studentin. Nur wenige waren noch hier, kaum einer wusste etwas über ihren Arzt. Ob ihr manche absichtlich keine Auskunft gaben? Möglich, auch wenn sie nicht so schlecht von ihren deutschen Freunden denken wollte. Endlich ein Tipp: Berlin. Eugenia machte sich mit Isabel auf den Weg.
Doch sie fanden ihn nicht. Das Geld ging zur Neige. Eigentlich sollte sie längst zurückreisen. Sie war doch offiziell nur als Touristin hier. Mit wem reden? Niemand war da, keiner, der ihr raten konnte. Sie wollte nicht zurück. Sie hatte doch allen vorgeschwärmt, dass es in Deutschland so viel besser sei. Sie hatte ihren Eltern und Geschwistern versprochen, dass sie Geld verdienen und ihnen etwas schicken würde.
Welche Chancen hatte sie noch in Kolumbien? Welche hatte ihr Kind? Es war eine Entscheidung, die über Nacht fiel: Wir bleiben. Isabel soll es besser haben. Das war vor fast fünfzehn Jahren.
Irgendwann gab sie die Suche nach Johannes auf. Sie und ihre Tochter würden es auch ohne ihn schaffen. Es ging jetzt einzig und allein um Isabel, um ihre Zukunft. Als Lehrerin konnte sie hier nicht arbeiten, sie war nicht gemeldet, sie gehörte nicht hierher, eine Frau ohne gültige Papiere. Das Leben war hart.Sie putzte in Haushalten, lernte andere Menschen kennen, die unter ähnlichen Bedingungen lebten. Die wenig verdienten und doch noch Geld in die Heimat schickten. So wie sie. Die Fragen der Eltern nach ihrem Leben in Deutschland waren weniger geworden. Es ging ihr gut hier, das dachten alle. Sonst könnte sie doch nicht auch noch für die Verwandtschaft sorgen. Sie ließ sie in dem Glauben. Damit sie sich keine Sorgen machten.
»Ich habe ihnen nie gesagt, wie wir wirklich leben«, sagte Eugenia. »Ich habe mich so geschämt.«
Ich fühlte mich naiv und ahnungslos.
Eugenia und Isabel waren mittendrin in dieser Stadt und lebten doch versteckt.
Sie verhielten sich normal und unauffällig. Dabei waren sie täglich in Panik.
Ihnen fehlte das Wichtigste, was man hier braucht, um ein Mensch zu sein: der Ausweis, der Pass.
»Uns gibt es in diesem Land eigentlich gar nicht.«
Fast fünfzehn Jahre im Schatten leben. Wie hielt der Mensch das aus?
»Weiß Isabel, dass ihr Vater Deutscher ist?«
Sie nickte: »Aber noch nicht lange. Ich fand es nicht wichtig.«
»Aber sie könnte nach ihm suchen, ihn kennenlernen.«
Eugenia schüttelte den Kopf: »Sie möchte nichts mit ihm zu tun haben.«
»Weiß sie denn, dass er sie nicht haben wollte, dass er Geld geschickt hat für …«
»Ich habe es meiner Tochter nicht gesagt. Aber
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