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Aufgeflogen - Roman

Aufgeflogen - Roman

Titel: Aufgeflogen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Zeit, mich umzusehen. Sie ging rasch, sie huschte durch die Straßen.
    Sie hatte gesagt, dass sie in Kreuzberg wohnte. Das war also offenbar die Wahrheit. Nun hatte ich die Chance herauszufinden, wo genau. Die Mariannenstraßehoch. Am Kunstamt Kreuzberg vorbei. Sie bog rechts in die Wrangelstraße. Viele kleine Läden, viele Menschen aus anderen Nationen. Sie verschwand in einem kleinen Lebensmittelgeschäft, kam ein paar Minuten später mit einer Tüte voller Einkäufe wieder heraus.
    Und jetzt? Wohnte sie hier irgendwo?
     
    Die Hausfassade war frisch geweißelt, das Hoftor mit Graffitis verziert. Der Hinterhof war das, was mein Vater ironisch ›noch nicht kaputt saniert‹ nannte. Ein heruntergekommenes Haus. Hässlich. Kalt. Krank.
    Vier Stockwerke. Bröckelnder Putz. Blinde Fenster. Einige mit Holz vernagelt.
    Ein paar Klingelschilder, aber nur wenige Namen.
    Hernandez stand nicht drauf.
     
    Ich zögerte. Was würde es bringen, sie hier zur Rede zu stellen?
    Wahrscheinlich wieder nur Lügen, Ausreden, Halbwahrheiten.
    Ich wollte sie gar nicht hören.
    Am nächsten Tag schwänzte ich die Schule, ohne es Isabel zu sagen. Sollte sie mich für krank halten oder denken, ich mache blau. Sie hatte doch auch ihre Geheimnisse, warum also sollte ich ehrlich sein. Ich fuhr noch einmal in die Wrangelstraße, betrat das Haus, sah mich erst einmal im Erdgeschoss um. Hier gab esoffenbar keine Wohnungen, nur eine Metalltür, die vermutlich in einen Abstellraum führte. Ich wollte gerade die Treppe in den ersten Stock hochgehen, als genau diese Metalltür aufging und eine Frau herauskam, die Isabel verdammt ähnlich sah.
    So wird sie in zwanzig Jahren sein, dachte ich und hoffte in dem Moment, wir wären dann noch ein Paar.
    Sie trug ein einfaches Sommerkleid. Die dunklen Haare hatte sie nach hinten gebunden, sie musterte mich offen und aufmerksam.
    »Du musst Christoph sein«, sagte sie dann und trat zur Seite. Als hätte sie auf mich gewartet. Die Abstellkammer war doch eine Wohnung oder war zumindest zu einer umfunktioniert worden.
    »Frau Hernandez   …«
    »Eugenia.«
    Ein kleines Zimmer im Erdgeschoss. Nur ein winziges Fenster, durch das wenig Licht hereinkam. Die Lampe über dem Tisch brannte. Zwei Sofas, das Bettzeug ordentlich gefaltet. Ein Kreuz an der Wand. Ein alter Herd mit zwei Kochplatten. Ein Kühlschrank. Tisch, Stühle, Schrank. Alles wirkte zusammengeklaubt, kein Teil passte zum anderen. Aber es war sauber. Viel sauberer als in meiner Bude.
    Neben einem der beiden Bettsofas lag ein Stapel Schulbücher. Und auf der Ablage Hefte, Papier, Stifte. An der Wand unter dem Kreuz klebte das Bild einerHeiligen. Ich wusste nicht, wer das sein sollte. Über dem Bettsofa hing ein Foto. Es zeigte Isabel und mich. Die braunen Haare fielen mir ins Gesicht, zu dem Zeitpunkt waren sie etwas länger gewesen. Die große Nase stach hervor, der Mund breit vom Lachen. Sie neben mir, fast einen Kopf kleiner. Lachend, strahlend, glücklich, verliebt.
     
    »Du hast es dir ein bisschen schöner vorgestellt«, sagte Isabels Mutter. Offenbar konnte man mir mein Entsetzen ansehen. Sie bot mir einen Stuhl an, schenkte mir ungefragt Kaffee ein und redete weiter, mit einem leichten Akzent, den ich bei Isabel nie gehört hatte.
    »Vielleicht wäre es besser, Isabel hätte dir mehr erzählt. Aber sie hatte zu viel Angst.«
    »Wovor? Dachte sie, ich kann nicht damit umgehen, dass   …«
    Ich wusste nicht einmal, was ich sagen wollte und wie.
    »Dass wir arm sind? Dass wir so leben? Nein, das ist schlimm genug, aber es ist nicht das Problem.«
    »Wenn ihr etwas braucht, ich könnte euch vielleicht helfen«, bot ich in meiner gut situierten Naivität an.
    Eugenia schüttelte den Kopf.
    »Was fehlt euch denn?«, fragte ich nach.
    »Papiere.«
     
    Sie erzählte mir ihre Geschichte:
    Die Studentin aus Kolumbien, die ein Stipendium für ein Jahr Deutschland bekam.
    Der deutsche Medizinstudent, in den sie sich verliebte.
    Ein glückliches Jahr für beide.
    Doch sie musste nach Hause. Dort erst stellte sie fest: Sie war schwanger.
    Ich liebe dich, ich hole dich nach Deutschland, wir werden eine Familie. Das hatte sie sich als Reaktion erhofft.
    Nein, sie konnte es ihm nicht am Telefon sagen, sie schrieb einen langen Brief. Damit er die Nachricht verdauen, damit er überlegen konnte.
    Er überlegte. Und schickte Geld. Nicht für die Reise nach Deutschland. Sondern für die Abtreibung.
    Ein Schock für Eugenia. So konnte ihre große Liebe nicht

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