Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufgeflogen - Roman

Aufgeflogen - Roman

Titel: Aufgeflogen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
hörte. Die Angst war ihr ständiger Begleiter, die Angst, erwischt und abgeschoben zu werden.
    Isabel sprach immer noch nicht mit mir über dieses Problem, und sie hasste es, wenn ich darauf zu sprechen kam.
    »Es ist mein Problem, mach es nicht zu deinem«, sagte sie, wenn sie bei mir war. Oder: »Ich will hier vergessen, was draußen ist.«
    Doch ich wollte meine Freundin verstehen. Ihr helfen. Damit alles gut würde. Keine Probleme mehr, ein gemeinsames sorgloses Leben.
     
    Ich stürzte mich in Aktivitäten. Christoph, der Retter der Ausweislosen.
    Mein erster Vorschlag war reines Wunschdenken: Ihr müsst deutsche Staatsbürger werden. Damit ihr legal hier sein dürft.
    Eugenia lächelte und nannte mich einen guten Jungen.
    Isabel aber warnte mich: Ich könnte sie in Gefahr bringen, wenn ich das Thema aufmache gegenüber meinen Eltern, meinen Freunden, meinen Bekannten oder gar den Behörden. Allein die Frage: Wie wird man eigentlich Deutscher? Schon könnte jemand auf den Gedanken kommen, dass mit meiner Freundin und deren Mutter etwas nicht stimmt.
    So weit hatte ich nicht gedacht.
    Trotzdem versuchte ich es. Aber mein Vater, der Anwalt, wurde sofort misstrauisch: »Wie kommst du darauf?«
    »Einfach so. Wir reden in der Schule drüber.«
    Er schwieg, musterte mich argwöhnisch. Meine Mutter wechselte das Thema.
    Wie ich es sonst hasste, wenn sie das tat. Streit unter den Teppich, neues Gespräch drauf, alles in Ordnung.
    Jetzt war ich froh darum.
    »Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte mich Isabel, als sie das nächste Mal bei mir war.
    »Nein, wieso?«
    »Er sieht mich anders an.«
    Und dann hatten wir Krach. Denn ihr war klar, dass ich meine Klappe nicht gehalten hatte. Die gute Absicht war ihr egal.
    »Ich hab’s gewusst. Du bist eine Gefahr für mich, für uns.«
     
    Da Isabel so wenig über ihre Lage redete, besorgte ich mir Bücher, las Fallgeschichten im Internet. Von Menschen, die in einer Parallelwelt leben. Mitten in Deutschland.
    Ich hatte gehofft, dadurch auf Schlupflöcher zu stoßen.
    Ich wünschte mir Storys mit Happy End.
    Aber ich fand sie nicht.
    Trotzdem war es gut, diese Beispiele zu lesen.
    Denn Isabel erzählte nichts von ihrer Angst.
    Doch hier konnte ich sie in fast jeder Zeile erkennen.
    Die Angst vor der Ausweiskontrolle.
    Vor dem prüfenden Blick des Nachbarn.
    Die Wut auf Vermieter, die überhöhte Mieten verlangten.
    Auf Chefs, die nur zwei Euro die Stunde für harte Arbeit zahlten.
    »Gehen Sie doch zur Polizei, wenn Ihnen das nicht passt.«
    Sie konnten nicht gehen. Es wäre das Ende gewesen.
     
    Immer auf dem Sprung.
    Nie wirklich zu Hause.
    Nie ganz ruhig schlafen.
    Die Polizei kommt auch nachts.
    Freunde und Bekannte waren auf einmal nicht mehr da.
    Mussten zurück. Nach Burkina Faso. Nach Chile. Nach Weißrussland.
    Vielleicht wurden sie nicht gleich umgebracht. Wurden »nur« bestraft. Kamen »nur« ins Gefängnis. Führten »nur« ein Leben unter menschenunwürdigen Bedingungen.
    Sie wollten es alle gerne besser haben.
    Deshalb waren sie nach Deutschland gekommen.
    Ihren Familien regelmäßig Geld schicken.
    Jetzt lebten sie in Deutschland. Wieder unter menschenunwürdigen Bedingungen.
    Sie wollten einen Teil vom besseren Leben. Das war ihr Vergehen.
    Sie bekamen ihn nicht. Vielmehr baute unser Wohlstand auf ihrer Notlage auf. Für wenig Geld schufteten sie auf Baustellen, in der Gastronomie, in Privathaushalten.
    Sie waren da, aber irgendwie unsichtbar. Denn keiner redete darüber, dass es sie gab.
    Es war eine Straftat, illegal in Deutschland zu sein. Bei den meisten Menschen ohne Papiere aber war es ihre einzige Straftat. Ansonsten waren sie gesetzestreuer als jeder ›Legale‹. Denn sie durften ja nicht auffallen. Kein Schwarzfahren, kein Ladendiebstahl. Brav sein, ducken, arbeiten. Es hatte etwas von Sklavenhaltung. Und alle schauten weg.
     
    Eine halbe Million Menschen ohne Papiere, hieß es in einem Buch. Mindestens drei Mal so viele Personen, das las ich im Internet.
    So viele Begriffe, die ich nicht verstand: Duldung, Rücknahmeersuchen, Übernahmezusicherung, Grenzübertrittsbescheinigung, Beantragung der Aufenthaltsgenehmigung, Härtefallantrag. Wie mochte es sein, wenn man neu in dieses Land kam und diese Worte über das eigene Schicksal entscheiden konnten, vielleicht sogar über Leben und Tod?
     
    Wie gnadenlos dieses Leben war, das wurde mir klar, als Eugenia mir erzählte, warum sie ihren linken Arm nicht mehr so belasten konnte. Sie hatte ihn sich

Weitere Kostenlose Bücher