Aufgeflogen - Roman
Kanzlei. Das tut er manchmal, wenn zu Hause dicke Luft ist.
Als er aus seinem Zimmer kommt, steht seine Mutter da und beobachtet ihn skeptisch.
»Ich glaube auch, es wäre besser, wenn du hierbleibst.«
»Noch ein Versuch, bitte.«
»Ich kann dich sowieso nicht aufhalten.«
Sie legt ihm wieder Geld hin. Er küsst sie auf die Wange.
»Das werde ich dir nie vergessen.«
Sie lächelt traurig: »Doch, das wirst du.«
Wieder treibt er sich stundenlang auf der Wrangelstraße herum und starrt auf das Tor mit den Graffitis. Noch ist es dunkel, aber in zwei oder drei Stunden wird die Sonne aufgehen. Er sollte sich besser verstecken. Er geht hinein in den Hinterhof, verbirgt sich hinter den Büschen, setzt sich auf einen Stein und wartet. Sollte jemand kommen oder das Haus verlassen, er kann jederzeit hinter den Busch oder die Mülltonnen schlüpfen.
Nichts passiert. Seine Hoffnung, Isabel hier zu finden, wird von Minute zu Minute kleiner. Sie ist nicht hier und sie wird auch nicht kommen. Davon ist er auf einmal genauso überzeugt wie vorher davon, dass sie hier auftauchen wird.
Er will gerade gehen, als jemand das Haus im Schatten der Dunkelheit verlässt. Christoph huscht hinter die Mülltonnen. Eine Frau, so scheint es. Sie macht nirgends Licht, sie geht leise, sieht sich um. Offenbar will sie nicht gesehen werden.
Nein, es ist nicht Isabel. Diese Frau ist größer, breiter, ihr Gang ist nicht leicht und federnd, sondern schwer. Sie sperrt ein Rad auf.
Verdammt. Sie will wegfahren.
Wer ist sie? Und wohin will sie um diese Zeit? Das hat doch alles mit Isabel nichts zu tun, oder?
Ein Rascheln. Er hat mit seinem Fuß ein paar welkeBlätter erwischt. Die Frau wendet den Kopf. Misstrauisch, forschend. Da erkennt er sie. Es ist Krögers Frau. Vielleicht fährt sie zur Arbeit, sie jobbt in einem 2 4-Stunden -Supermarkt, das hat Isabel ihm einmal erzählt.
Ein Bild taucht in seinen Gedanken auf. Isabel und er, als sie sich draußen auf der Straße wiedergesehen, in den Arm genommen und sich einen Neuanfang versprochen haben. Diese Frau stand auf der anderen Straßenseite. Er erinnert sich noch an ihren Blick voller Hass und Neid. Kam nicht kurz darauf die Polizei?
Die Frau hat ihn jetzt offenbar nicht entdeckt in seinem Versteck. Sie steigt aufs Rad und fährt los. Wie einen Film sieht er die Szene wieder vor sich. Wie die Polizei auf ihn und Isabel zukam, nach den Papieren fragte. Wie Isabel aufgeben wollte, wie er sie anschrie, sie solle weglaufen, wie er dem Polizisten ein Bein stellte und dann festgenommen wurde. Da stand diese Frau und sah zu. Stand sie schon länger da? Er weiß es nicht. Was hat sie gerufen? »Da läuft sie!« – und dann hatte sie mit dem Finger auf die fliehende Isabel gezeigt. Schlagartig wird ihm klar: Diese Frau hat die Polizei verständigt, sie hat Isabel verraten.
Er läuft hinaus auf die Straße und sieht sich um. Da hinten, der schwache Schein einer Radlampe auf demBürgersteig. Sein Roller steht um die Ecke. Er hat keine Zeit, ihn zu holen, dann wäre sie längst weg.
Soll er ihr im Laufschritt folgen? Schafft er das? Ist es überhaupt sinnvoll?
Er hört auf seinen Instinkt.
Los, hinterher.
21. Kapitel
Isabel steht am Ufer und beobachtet das Hausboot, das sacht auf den Wellen schaukelt. Es ist still, alle schlafen, die Welt wirkt friedlich und ruhig. Doch das Boot in der Dunkelheit, es hat für sie etwas Bedrohliches. Aber sie hat keine Wahl. Sie braucht ein Versteck.
Niemand hat sie beachtet, als sie im Schutz der Nacht durch die Köpenicker Straße ging. Als sie in einem Haustor verschwand, den gepflegten Hinterhof durchquerte und hinunter zur Spree ging. Die letzten zwei Wochen vor Krögers Tod ist sie diesen Weg öfter gegangen, nie freiwillig.
Sie hört das Plätschern der Wellen, die gegen das Boot schlagen. Sie zieht es am Seil etwas heran, springt hinauf.
Er kommt nicht, das muss sie sich immer wieder vorsagen. Er kann nicht kommen, er kann ihr nichts mehr tun, er ist tot.
Sie scheut sich davor hineinzugehen. Sie will das alles nicht sehen. Tisch, Stuhl, Bett. Sie will sich nicht setzen an diesem Ort, der ihr so zuwider ist, mit dem sie so viele schlimme Erinnerungen verbindet.
Sie bleibt draußen, aber ihr wird kalt. Es nieselt ein bisschen, sie hat keine warmen Sachen dabei. Also öffnet sie doch die Tür zur Kajüte, geht hinein, setzt sich in der Dunkelheit auf einen Stuhl. Unbeweglich hockt sie da, starrt hinaus auf das
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