Aufruhr in Oxford
nämlich daß die Frevlerin, statt vorsichtiger zu werden, alle Vorsicht über Bord werfen und zu direkter Gewalttätigkeit übergehen könnte. ‹In diesem Falle›, sagte er, ‹würden wir sie zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit ergreifen, aber um den Preis, daß jemand Leben oder Gesundheit dabei verlöre.› Ich fragte, wessen Leben oder Gesundheit denn bedroht sei. Er antwortete, als Opfer kämen am ehesten – Sie selbst, Miss de Vine und noch eine andere in Frage, die er nicht nennen könne, deren Existenz er jedoch annehmen müsse. Er überraschte mich ferner mit der Mitteilung, daß ein Überfall auf Sie bereits versucht, aber wieder aufgegeben worden sei. Stimmt das?»
«Ich würde es nicht so dramatisch ausdrücken», sagte Harriet und schilderte kurz die Sache mit dem fingierten Anruf. Als Miss Hillyards Name fiel, blickte die Rektorin auf.
«Verstehe ich Sie recht, daß Sie einen konkreten Verdacht gegen Miss Hillyard hegen?»
«Wenn ich das täte», antwortete Harriet vorsichtig, «wäre ich damit nicht die einzige. Aber ich muß hinzufügen, daß Lord Peters Nachforschungen, soweit ich darüber Bescheid weiß, nicht in diese Richtung gehen.»
«Es freut mich, Sie das sagen zu hören», erwiderte Dr. Baring.
«Es wurden mir schon Vorstellungen gemacht, denen ich – in Ermangelung von Beweisen – ausgesprochen ungern zugehört habe.»
Dr. Baring war also über die Stimmung im Kollegium auf dem laufenden. Vermutlich hatten Miss Allison und Mrs. Goodwin geredet. Aha!
«Zu guter Letzt», fuhr die Rektorin fort, «habe ich Lord Peter mitgeteilt, daß ich es für besser halte, weitere Beweise abzuwarten. Aber die Entscheidung muß natürlich davon abhängig gemacht werden, ob Sie und Miss de Vine bereit sind, die damit verbundenen Risiken einzugehen. Die Zustimmung der unbekannten Dritten können wir naturgemäß nicht einholen.»
«Es stört mich nicht im mindesten, was für Risiken ich eingehe», sagte Harriet. «Aber ich finde, Miss de Vine sollte gewarnt werden.»
«Das habe ich auch gesagt. Und Lord Peter war einverstanden.»
Demnach, dachte Harriet, hat ihn irgend etwas dazu bewogen, Miss de Vine aus dem Kreis der Verdächtigen auszuschließen. Freut mich. Sofern es kein macchiavellistischer Schachzug ist, der sie unvorsichtig machen soll.
«Haben Sie schon etwas zu Miss de Vine gesagt, Dr. Baring?»
«Miss de Vine ist in London und kommt erst morgen abend zurück. Ich habe vor, dann mit ihr zu sprechen.»
Man konnte also nur abwarten. Und in der Zwischenzeit gewahrte Harriet eine merkwürdig veränderte Atmosphäre im Kollegium. Es war, als ob sie alle ihr gegenseitiges Mißtrauen und ihre allgemeinen Ängste aus den Augen verloren hätten und zusammengerückt wären wie Zuschauer am Ring, um einen anderen Kampf zu beobachten, in dem sie selbst einer der Hauptakteure war. Die dadurch hervorgerufene sonderbare Spannung wurde kaum dadurch gemildert, daß die Dekanin einigen Auserwählten anvertraute, ihrer Ansicht nach sei Miss Flaxman von ihrem Freund sitzengelassen worden, und das geschehe ihr ganz recht. Worauf Miss Flaxmans Tutorin verdrießlich bemerkte, sie wäre froh, wenn die Leute sich mit so etwas nicht ausgerechnet im Sommertrimester herumzuschlagen hätten, aber zum Glück mache Miss Flaxman ihr Abschlußexamen ja erst im nächsten Jahr. Das erinnerte Harriet daran, Miss Shaw zu fragen, wie es Miss Newland gehe. Miss Newland schien sich gut zu machen und ihr Bad im Cherwell vollkommen überwunden zu haben, so daß ihre Chancen für eine Eins recht gut standen.
«Ausgezeichnet!» sagte Harriet. «Ich habe meinen Hauptgewinn nämlich schon verplant. Wie geht’s übrigens Ihrer jungen Freundin Cattermole, Miss Hillyard?»
Ihr war, als warteten die Versammelten atemlos auf die Antwort. Miss Hillyard antwortete ziemlich kurz angebunden, Miss Cattermole habe anscheinend ihre frühere Form wieder erreicht, und zwar, wie sie von der jungen Dame persönlich gehört habe, dank Miss Vanes gutem Rat. Sie fügte hinzu, es sei sehr freundlich von Harriet, sich bei all ihren anderen Sorgen auch noch für die Geschichtsstudentinnen zu interessieren. Harriet gab darauf eine belanglose Antwort, und ihr schien, als atmete das Kollegium wieder auf.
Später an diesem Tag unternahm Harriet eine Ruderpartie mit der Dekanin und sah zu ihrer gelinden Überraschung Miss Cattermole mit Mr. Pomfret zusammen in einem Puntkahn. Sie hatte den fälligen «Bußbrief» von Mr. Pomfret erhalten und
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