Aufruhr in Oxford
gehabt, was sie an ihn erinnern konnte. Nun nahm sie also die beiden Karten in die Hand und überlegte. Sie konnte sie verschenken oder selbst mit einer Freundin ins Theater gehen. Eigentlich hatte sie ja kein Verlangen, den ganzen Abend neben Banquos Geist zu sitzen, der einem andern den Platz neben ihr streitig machte. So steckte sie die Karten in einen Umschlag und schickte sie an das Ehepaar, das sie mit nach Ascot genommen hatte, dann zerriß sie sein Briefchen und warf es in den Papierkorb. Nachdem sie auf diese Weise Banquo losgeworden war, konnte sie wieder frei atmen und sich dem nächsten Ärgernis des Tages zuwenden.
Dieses bestand aus der Durchsicht dreier ihrer Bücher für eine Neuauflage. Seine eigenen Werke noch einmal zu lesen, ist meist eine gräßliche Arbeit, und nachdem sie das erledigt hatte, fühlte sie sich gründlich ermattet und höchst unzufrieden mit sich selbst. Die Bücher waren ja soweit in Ordnung – als Denkspiele geradezu brillant. Aber ihnen fehlte etwas; sie lasen sich jetzt, als ob sie gewissermaßen mit einem inneren Vorbehalt geschrieben worden wären, mit dem Vorsatz, ihre eigenen Ansichten und ihre eigene Persönlichkeit unbedingt herauszuhalten. Voll Unbehagen dachte sie an eine gescheite, doch oberflächliche Diskussion zweier ihrer Romanfiguren über die Ehe. Sie hätte soviel mehr daraus machen können, wenn sie nicht Angst davor gehabt hätte, sich etwas zu vergeben. Was sie so hemmte, war das Gefühl, mittendrin zu stehen, den Dingen zu nahe, und von der Wirklichkeit bedrängt und erdrückt zu werden. Wenn es ihr einmal gelänge, von sich selbst auf Abstand zu gehen, würde sie gewiß mehr Selbstvertrauen gewinnen und sich besser in der Hand haben. Dies war die große Errungenschaft, mit der sich der Gelehrte – bei all seinen Beschränktheiten – gesegnet fühlen durfte: die Einäugigkeit, der ganz auf das Objekt gerichtete Blick, frei von Trübungen und Ablenkungen durch die Splitter und Balken im eigenen Auge. «Frei, ach ja?» knurrte Harriet bei sich, während sie ärgerlich die Korrekturexemplare in braunes Papier packte.
Du nicht allein, wenn du allein noch bist, O Gott, daß ich von dir doch frei sein könnte!
Sie war über die Maßen froh, daß sie sich der Theaterkarten entledigt hatte.
Und so traf sie sich mit Wimsey, als dieser endlich von seiner Expedition in den Norden zurückkam, in kampflustiger Stimmung. Er hatte sie gebeten, mit ihm zu Abend zu essen, diesmal im Egotists-Club – einem ungewöhnlichen Treffpunkt. Es war Sonntagabend, und sie hatten den Raum für sich allein. Sie erwähnte ihren Oxfordbesuch und benutzte die Gelegenheit, ihm die lange Liste vielversprechender Köpfe aufzuzählen, die sich alle im Studium hervorgetan hatten und dann in der Ehe untergegangen waren. Er pflichtete ihr nachsichtig bei, daß so etwas vorkomme, allzuoft vorkomme, und wartete seinerseits mit einem genialen Maler auf, der jetzt, vom gesellschaftlichen Ehrgeiz seiner Frau getrieben, unter die Fließbandkleckser gegangen war und Honoratioren porträtierte.
«Manchmal», fuhr er gelassen fort, «ist natürlich der Partner nur eifersüchtig oder egoistisch. Aber bei der Hälfte von ihnen ist es schiere Dummheit. Sie wollen das eigentlich gar nicht. Man kann sich nur wundern, wie wenige Leute in ihrem Leben etwas wirklich wollen.»
«Ich glaube, sie könnten gar nicht anders. Egal, was sie eigentlich wollen. Die Wurzel des Übels ist der Druck, der von der Persönlichkeit des anderen ausgeht.»
«Ja, dagegen schützen die besten Absichten nicht. Was sie natürlich nie tun. Man kann sich noch so oft sagen, daß man dem Glück des anderen nicht im Wege stehen will, man tut es eben doch – durch seine bloße Existenz. Der Haken liegt in der praktischen Schwierigkeit, sozusagen nicht zu existieren. Ich meine, wir sind nun mal alle miteinander da, und was kann man dagegen schon machen?»
«Nun, ich glaube, manche Leute fühlen sich dazu berufen, menschliche Beziehungen zu ihrer Lebensaufgabe zu machen. Für sie selbst ist das ja ganz schön. Aber was wird aus den andern?»
«Ärgerlich, nicht?» meinte er mit einem Anflug von Ironie, der sie reizte. «Meinen Sie, man sollte menschliche Beziehungen mit Stumpf und Stiel ausrotten? Das ist nicht so einfach. Da gibt es immer noch den Metzger oder Bäcker oder die Vermieterin oder sonst jemanden, mit dem man sich herumschlagen muß. Oder sollen die Verstandesmenschen einfach regungslos dasitzen und die
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