Aufruhr in Oxford
aus eigener Erfahrung. Natürlich kann es sich bei dieser einen Sache auch um etwas rein Gefühlsmäßiges handeln; das will ich nicht abstreiten. Man kann zum Beispiel sämtliche Sünden begehen, die im Buche stehen, und dennoch gegenüber einem Menschen treu und ehrlich sein. Dann ist eben dieser eine Mensch die Aufgabe, die man sich gestellt hat. Ich achte diese Art Treue nicht gering; sie ist nur zufällig nicht die meine.»
«Haben Sie das vielleicht durch einen grundlegenden Fehler gemerkt, den Sie selbst gemacht haben?» fragte Harriet leicht nervös.
«Ja», sagte Miss de Vine. «Ich war einmal verlobt. Aber ich stellte fest, daß ich mich immer furchtbar töricht anstellte – seine Gefühle verletzte, die dümmsten Dinge tat und die fundamentalsten Fehler beging, wenn es sich um ihn handelte. Schließlich begriff ich, daß ich mir für ihn einfach nicht soviel Mühe gab wie zum Beispiel für einen Vortrag über ein umstrittenes Thema. Also kam ich zu dem Schluß, daß er nicht meine Lebensaufgabe war.»
Sie lächelte. «Dabei hatte ich ihn eigentlich lieber als er mich. Er hat dann eine prächtige Frau geheiratet, die ihm ganz ergeben ist und ihn zu ihrer Aufgabe macht. Ich glaube schon, daß er eine Lebensaufgabe für einen Menschen sein kann. Er ist Maler und steht die meiste Zeit am Rande des Bankrotts; aber er malt sehr gut.»
«Dann glaube ich fast, man sollte überhaupt nicht heiraten, wenn man nicht bereit ist, den andern zu seiner Lebensaufgabe zu machen.»
«Wahrscheinlich; obwohl es hier und da auch Leute gibt, glaube ich, die sich nicht als Aufgabe, sondern einfach als Mitmenschen betrachten.»
«Ich nehme an, so ist es bei Phoebe Tucker und ihrem Mann», sagte Harriet. «Sie haben Phoebe bei der Jahresfeier kennengelernt. Diese Partnerschaft scheint zu klappen. Aber wenn man die Frauen sieht, die eifersüchtig auf die Arbeit ihrer Männer sind, und die Männer, die eifersüchtig auf die Interessen ihrer Frauen sind, muß man doch annehmen, die meisten Menschen betrachten sich selbst als Aufgabe.»
«Am schlimmsten», sagte Miss de Vine, «ist die verheerende Wirkung auf den Charakter, wenn sich einer als des anderen Aufgabe sieht. Mir tut jeder leid, der sich einem anderen zur Aufgabe macht; es endet meist damit, daß er (oder sie natürlich) den Partner verschlingt oder von ihm verschlungen wird, und das eine ist so schlimm wie das andere. Mein Maler hat seine Frau verschlungen, was aber beide nicht wissen; und die arme Miss Cattermole ist in Gefahr, für ihre Eltern zur alleinigen Aufgabe und so von ihnen verschlungen zu werden.»
«Sie raten also dazu, sich nur unpersönliche Dinge zur Aufgabe zu machen, niemals Menschen?»
«Ja», sagte Miss de Vine.
«Aber Sie sagten doch vorhin auch, daß Sie niemanden gering achten, der einen anderen Menschen zu seiner Aufgabe macht?»
«Ich achte solche Menschen alles andere als gering», sagte Miss de Vine. «Ich halte sie für gefährlich.»
«Christ Church College,
Freitag
Liebe Miss Vane,
wenn Sie mir mein idiotisches Betragen von neulich verzeihen können, kommen Sie doch bitte am Montag um 1 Uhr zu mir zum Lunch. Ich bin noch immer in Selbstmordstimmung, und Sie täten somit ein gutes Werk. Darf ich hoffen, daß die Meringen wohlbehalten zu Hause angekommen sind?
Ihr sehr ergebener
Saint-George»
Mein lieber junger Freund, dachte Harriet, als sie diese naive Einladung mit einer Annahme beantwortete – wenn du glaubst, ich durchschaue dich nicht, irrst du dich gewaltig. Diese Aufmerksamkeit gilt nicht mir, sondern zielt auf les beaux yeux de la cassette de l’oncle Pierre. Aber es gibt schlechtere Küchen als am Christ Church College, und darum komme ich. Im übrigen möchte ich gern mal wissen, wieviel Geld du so durchbringst. Der Erbe des Hauses Denver dürfte von sich aus reich genug sein, um nicht auf Onkel Peter zurückgreifen zu müssen. Mein Gott, wenn ich mir vorstelle, daß ich neben Schulgeld und Kleidung ganze fünf Pfund pro Trimester zum Verjubeln bekam! Von meiner Seite habt Ihr wenig Sympathie und Unterstützung zu erwarten, Mylord!
Immer noch in dieser gestrengen Stimmung fuhr sie am Montag die St. Aldate’s hinunter und fragte den Pförtner unterm Tom Tower nach Lord Saint-George; aber hier erfuhr sie nur, daß Lord Saint-George nicht im College sei.
«Oh!» machte Harriet befremdet. «Aber er hat mich zum Essen eingeladen.»
«Zu dumm, daß man Ihnen nicht Bescheid gegeben hat, Miss. Lord
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