Aufruhr in Oxford
eigenen waren, «angenommen, man ist sowohl mit Herz als auch mit Hirn geschlagen?»
«Das erkennt man gewöhnlich an den Fehlern, die man macht», antwortete Miss de Vine. «Ich bin überzeugt, daß man grundlegende Fehler nie bei Dingen begeht, an denen einem wirklich liegt. Grundlegende Fehler beruhen auf mangelndem Interesse. In meinen Augen, heißt das.»
«Ich habe einmal einen großen Fehler gemacht», sagte Harriet, «wie Sie ja vermutlich wissen. Ich glaube aber nicht, daß er auf mangelndem Interesse beruhte. Damals erschien mir diese Sache nämlich als die wichtigste auf der Welt.»
«Und trotzdem haben Sie den Fehler gemacht. Glauben Sie, daß Sie wirklich mit ganzer Konzentration bei der Sache waren? Mit dem ganzen Verstand ? Sind Sie an die Sache wirklich so sorgfältig und gewissenhaft herangegangen wie zum Beispiel an ein Stück schöne Prosa?»
«Das halte ich für einen etwas schwierigen Vergleich. Man kann doch an Gefühlsdinge nicht mit solch intellektuellem Abstand herangehen.»
«Hat das Schreiben guter Prosa nicht auch mit Gefühlen zu tun?»
«Doch, natürlich. Vor allem wenn einem etwas gelungen ist und man weiß, daß es so richtig ist, gibt es kein schöneres Gefühl. Es ist herrlich. Man fühlt sich wie Gott am siebenten Tag – für ein Weilchen jedenfalls.»
«Nun, gerade das meine ich ja. Sie geben sich die allergrößte Mühe und machen absolut keinen Fehler – und dann fühlen Sie die Ekstase. Aber wenn Sie sich bei irgendeiner Aufgabe mit der zweitbesten Lösung zufriedenzugeben bereit sind, ist es nicht wirklich Ihre Aufgabe.»
«Da haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen», sagte Harriet nach kurzem Nachdenken. «Wenn man an etwas aufrichtig interessiert ist, weiß man sich in Geduld zu fassen, Zeit darüber vergehen zu lassen, wie Königin Elizabeth sagte. Das ist vielleicht der tiefere Sinn des Sprichworts, daß Genie mit Geduld zusammengeht, was ich immer für ziemlich widersinnig gehalten habe. Wenn man etwas wirklich will, versucht man es nicht ungeduldig an sich zu reißen; tut man das doch, so will man es nicht wirklich haben. Wenn man also beobachtet, wie man sich bei einer Sache die größte Mühe gibt, ist das dann Ihrer Meinung nach ein Beweis dafür, daß sie einem viel bedeutet?»
«Weitgehend ja, glaube ich. Aber der eigentliche Beweis liegt darin, daß es einem auch gelingt, keine grundlegenden Fehler dabei zu machen. Flüchtigkeitsfehler kommen natürlich immer wieder vor. Aber grundlegende Fehler sind ein sicheres Zeichen dafür, daß einem nichts an der Sache liegt. Ich wünschte, man könnte den Leuten heutzutage beibringen, daß die Doktrin, man solle sich kurzerhand nehmen, was man sich zu wünschen glaubt, völlig falsch ist.»
«Ich habe diesen Winter in London sechs Theaterstücke gesehen», sagte Harriet, «und alle predigten diese Doktrin des Nimm-was-du-kriegst. Ich gebe zu, daß ich hinterher immer das Gefühl hatte, die Figuren wußten eigentlich alle nicht, was sie wollten.»
«Eben», sagte Miss de Vine. «Wenn man erst einmal genau weiß, was man will, wird man feststellen, daß alles andere davor zur Bedeutungslosigkeit schrumpft – alle anderen Interessen, die eigenen wie die der anderen. Miss Lydgate würde das sicher nicht gern hören, aber es gilt für sie wie für jedermann. Sie ist der gütigste Mensch unter der Sonne, nämlich in Fragen, denen sie gleichgültig gegenübersteht, wie Jukes’ kleine Gaunereien. Aber gegen Mr. Elkbottom und seine Prosodie-Theorien läßt sie nicht die geringste Milde walten. Da würde sie nichts durchgehen lassen, nicht einmal um ihn vor dem Galgen zu retten. Sie würde sagen, das könne sie nicht. Und sie könnte es wirklich nicht. Wenn sie Mr. Elkbottom vor ihren Augen demütig auf dem Bauch kriechen sähe, täte er ihr zwar leid, aber sie würde nicht ein einziges Wort zurücknehmen. Das wäre nämlich Verrat. Man kann kein Mitleid haben, wo es um die eigene Berufsehre geht. Ich nehme an, Sie würden in allem fröhlich drauflos lügen, außer – außer in was?»
«Oh, in allem!» meinte Harriet lachend. «Allerdings könnte ich nie sagen, irgendein Buch sei gut, wenn es miserabel ist. Das könnte ich nicht. Ich mache mir viele Feinde damit, aber ich kann nicht anders.»
«Nein, das kann man nicht», sagte Miss de Vine. «Mag es noch so weh tun, eines gibt es immer, womit man sich aufrichtig auseinandersetzen muß, sofern einem überhaupt noch etwas heilig ist. Ich muß es wissen, nämlich
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