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Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand

Titel: Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ameneh Bahrami
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einem Schahid geworden? Einem Märtyrer, der sich für sein Vaterland geopfert hatte?
    Meine Mutter musste gehört haben, dass ich bitterlich weinte, denn sie kam zu mir ins Zimmer und erschrak: »Kind, wo hast du die Fotos her!?« Die Aufnahmen tauchten nie wieder auf …
    Tiefe Trauer war über unser Haus, über die Stadt, über das ganze Land gekommen. Eltern weinten um ihre Söhne, Frauen um ihre Ehemänner, Kinder um ihre Geschwister. Und wie viele namenlose Opfer mag dieser verfluchte Krieg gefordert haben? Wer übernahm die Verantwortung für die vielen Tausend Toten? Die Freiwilligen – die Kinder, die viel zu jung, und die alten Menschen, die viel zu schwach für den offiziellen Wehrdienst waren –, die als Vorkämpfer über vermintes Feindesgebiet in den Tod gingen und im Glauben an Freiheit und Vaterland zu Schahids, Märtyrern, wurden. Noch heute liegen mehr als zehn Millionen Minen im einstigen Kriegsgebiet verstreut und fordern täglich weitere Todesopfer, die keiner mehr zählen mag.
    Wofür nur waren all die Menschen gestorben?
    »Mama, was wollte Onkel Asghar mit seinem Kriegseinsatz erreichen?«, fragte ich als Kind.
    »Er hat dafür gekämpft, dass wir heute in Freiheit hier leben können und nicht fürchten müssen, morgen von fremden, feindlichen Mächten beherrscht zu werden. Dass du und ich sorglos leben können, dafür ist er gestorben«, sagte meine Mutter und rief mir in Erinnerung, wie gerne Onkel Asghar Ingenieur geworden wäre.
    Sie hing eine Weile still ihren Gedanken nach und machte mir dann einen Vorschlag: »Du, Ameneh, könntest doch Onkel Asghars Wunsch erfüllen. Du könntest an seiner Stelle Ingenieurin werden, seinen Weg weitergehen!«
    Mein Blick fiel auf den kleinen Koran, der auf der Kommode stand. Onkel Asghar hatte oft darin gelesen. Ich nahm das Buch zur Hand und beschloss, diesen Koran von nun an zu lesen, zu studieren, mir Vers für Vers, Sure um Sure einzuprägen und den Weg fortzusetzen, den mein Onkel Asghar eingeschlagen hatte. Ich war zwar ein Mädchen, doch ich wusste, es würde mir eines Tages gelingen. Ich stellte den Koran an seinen Platz zurück und fragte meine Mutter: »Magst du nicht wieder nach Teheran zurückgehen? Hier in Hamadan ist so viel Trauer.«
    Ein geschiedenes Ehepaar könne nicht einfach wieder zusammenleben, erklärte meine Mutter und schlug mir vor, meinem Vater zu schreiben, dass ich Sehnsucht nach ihm hatte. Ich schrieb ihm. Und er kam tatsächlich nach Hamadan und nahm uns alle fünf mit nach Teheran.
    Doch das Leben in unserer Militärsiedlung war der reinste Albtraum. Überall Luftabwehrgeschütze, von morgens bis abends heulten Sirenen, und wir Kinder mussten ständig allein in den düsteren Bunkern Schutz suchen. Meine Mutter schrieb irgendwann, dass auch Onkel Ali an die Front gegangen sei. Ich las den Brief gerade, als erneut ein Fliegeralarm aufheulte. Dieses Mal schien es ein Luftangriff unweit vom Arbeitsplatz unseres Vaters zu sein. Wir hörten die Bomber kommen. Ohrenbetäubender Lärm. Ich verkroch mich, während Mohammad und Schirin in den Himmel schauten und die vielen Flugzeuge, die in Sichtweite ihre Todesfracht abwarfen, zählten.
    War das der Weltuntergang? Sah so das Ende aus? So dunkel und düster? Und so laut? Dicke Rauchschwaden stiegen auf. Ringsum wurde alles schwarz. Offenbar war ein Munitionsdepot getroffen worden. Schirin schrie: »Gleich fliegen wir alle in die Luft. Gott steh uns bei!« Die Erde bebte, es rauchte, es stank, und dann, plötzlich, wurde es mit einem Mal totenstill.
    Nach einer Weile, als wir Hilfshubschrauber des Roten Halbmonds über der Abwurfstelle sahen, machten Schirin und Mohammad sich zitternd auf den Weg, um unseren Vater zu suchen. Und so wie meine Geschwister machten sich in diesem Augenblick viele Menschen fieberhaft auf die Suche nach ihren Vätern, Söhnen, Brüdern, Ehemännern. Ich sah ihnen nach und wartete. Plötzlich erkannte ich meinen Vater, der sich den Weg durch die Menschenmenge bahnte. Ich lief auf ihn zu, und er schloss mich in seine Arme. »Ach, Papa, ich hatte schon Angst, du wärest den gleichen Weg gegangen wie Onkel Asghar!«
    »Nein«, sagte mein Vater, düster und zugleich erleichtert, »ich bin davongekommen. Aber viele meiner Kollegen hatten weniger Glück als ich.«
    Bald kamen auch Schirin und Mohammad die Straße entlang und erzählten mit blassen Gesichtern, dass sie Berge von Toten gesehen hatten. Nun wurde auch klar, wozu die großen Behälter dienten, die

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