Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
konnte. Der Krieg im Kleinen war beendet, es kehrte Ruhe ein – so wie auch unser vom Golfkrieg gezeichnetes Land langsam zur Ruhe kam. Die Menschen fanden sich nach und nach mit dem Verlust ihrer Lieben ab. Und auch unsere Welt schien wieder heil zu werden …
Ein knappes Jahr verging ereignislos, bis ein Nachrichtensprecher, den Tränen nahe, eines Abends den Tod des Ayatollah Khomeini verkündete. Von Politik verstand ich zu jener Zeit nichts, aber ich kann mich noch erinnern, dass meine Eltern in diesen Tagen kein anderes Gesprächsthema mehr hatten. Zur selben Zeit verstärkten sich die Depressionen meines Vaters so sehr, dass er arbeitsunfähig wurde. Seine Krankheit, das war von Ärzten bestätigt worden, hatte ihren Anfang genommen, als mein Vater noch ein kleiner Junge war, und schien nun voll ausgebrochen zu sein.
Über die Kindheit meines Vaters hätte ich gerne mehr erfahren, aber er sprach nur sehr selten über die Zeit, in der er, als drittes von vier Geschwistern, in Hamadan aufwuchs. Sein Leben blieb über weite Strecken im Dunkeln – so dunkel, wie sein Gemütszustand zu jener Zeit gewesen sein muss. Khomeini war tot, und unser Land stand erneut vor unsicheren Zeiten.
7. Argusauge – Ein Mädchen auf Abwegen
Im Jahr 1990 zogen wir wieder fort aus Teheran, weil wir hofften, mein Vater würde in Hamadan auf andere Gedanken kommen. Die Ärzte meinten, etwas Abwechslung könnte ihm guttun und ihm helfen, den Krieg zu vergessen sowie über den Verlust seiner Arbeitskollegen hinwegzukommen. Mir aber fiel der Abschied sehr schwer. Natürlich fand ich die Militärsiedlung oft genug bedrückend und langweilig und freute mich auf jeden Sommer in Hamadan. Aber dennoch hatten wir auch in Teheran unweit von unserer Wohnung einen Fluss und Berge – freie Natur, in der wir uns austoben konnten. Was haben wir nicht alles angestellt, Frösche gefangen, im Haus versteckt, Fische geangelt, sie ausgenommen und ihr Innerstes genau studiert, in den Bergen wilden Rhabarber gepflückt und Füchse beobachtet.
Nun aber hieß es Abschied nehmen. Einmal mehr Abschied nehmen. Das Leben schien immer nur zu nehmen, dachte ich damals. Es nahm mir regelmäßig meine Heimat, es nahm mir das Glück, die Freunde und die Freude. Später musste ich erkennen, dass mir das Leben auch die Zeit, die Jugend und die Schönheit genommen hat. Doch das Leben gibt auch. Es schenkt uns einen reichen Schatz an Erlebnissen und Erfahrungen. Damit wir das nicht vergaßen, ermahnte mein Vater uns ständig, ältere Menschen zu respektieren und ihren Rat nicht achtlos in den Wind zu schlagen. Zu jener Zeit konnte und wollte ich das alles noch nicht verstehen. Ich war noch ein Kind. Ein Kind, das erneut seine Heimat verlassen musste.
Bald brachen wir auf zur letzten Fahrt durch unseren Stadtteil, durch endlose Straßen, von Nadelbäumen gesäumt, vorbei an all den schmucken Häusern, die Deutsche und Franzosen einst erbaut hatten. Vorbei an der Schule und an dem Kindergarten, den ich so gerne besucht hätte, als ich noch klein war. Mein Vater aber wollte damals, dass wir zu Hause groß wurden, weil er fand, wir hätten mit unserer Mutter mehr Freiheit als in dem strengen Kindergarten.
Hamadan war über viertausend Jahre alt und somit eine der ältesten Städte des Iran. Einst war die Stadt ein wichtiges Handelszentrum an der Seidenstraße, auf dem Weg zwischen Bagdad und Teheran, und weithin berühmt für ihre Trauben, ihren Mohn, für Pelze und Teppiche. Vielleicht bedeutet ihr Name ja deshalb »Stadt der Versammlung«, auch wenn der Volksmund lieber sagt, Hameh dana heiße, dass alle »weise seien«. Wie auch immer, in ihrer bewegten Geschichte war die Stadt häufig umkämpft, unter anderem von Arabern, Türken und Mongolen. In der Neuzeit, während der beiden Weltkriege, marschierten Russen und Briten ein.
Häufig zerstört, zuletzt durch die fürchterlichen irakischen Luftangriffe, die wir selbst miterlebt hatten, und ebenso oft wieder aufgebaut, ist Hamadan heute zwar keine blühende Metropole mehr, doch sie hat noch immer eine große Anziehungskraft. Die verdankt sie namhaften Persönlichkeiten, damals wie heute. Der Dichter Baba Taher zum Beispiel lebte im zehnten und frühen elften Jahrhundert hier. Und der vielleicht berühmteste Gelehrte aller Zeiten, Abu Ali Ibn Sina, Avicenna, starb 1037 im Alter von 57 Jahren in Hamadan. Er war Physiker, Mathematiker, Astronom, Alchimist, Jurist und Arzt und für einige Jahre auch der Leibarzt und
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