Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
Großwesir des Emirs von Hamadan. Bis heute kommen Touristen aus aller Welt, um seine Grabstätte zu sehen. Kaum vorstellbar, dass »Bouali«, wie er auch genannt wurde, schon mit zehn Jahren den Koran auswendig konnte und sich mit achtzehn als Arzt einen Namen gemacht hatte. Außerdem stammt der erste Präsident der Islamischen Republik Iran, Abolhassan Banisadr, aus Hamadan und natürlich Schirin Ebadi, die erste muslimische Friedensnobelpreisträgerin.
Wir fanden bald ein Haus mit Blick auf die Berge und endlos weite Felder, über die sich, kaum dass wir eingezogen waren, der schönste Regenbogen spannte, den ich je gesehen hatte. War er von Gottes Hand gemalt? Wie viele Kinder sehen wohl heute noch solche Regenbögen, so imposant und farbenprächtig? Ich sehe sie heute nur noch in meiner Phantasie. Zu traurig, dass die nicht ausreicht, um mir vorzustellen, wie Hamadan früher einmal ausgesehen haben mag. Gerade als wir dort hinzogen, waren Ausgrabungen im Gange. Einige Fundstücke aus dieser Zeit stehen heute im Nationalmuseum in Teheran. Ich werde sie vermutlich nie wieder sehen können.
In Hamadan kam ich zunächst in die erste Klasse der Realschule und hatte einen ziemlich weiten Schulweg. Ich hätte mit dem Bus fahren können, ging aber oft zu Fuß, weil mir der Weg über die Felder, durch die freie Natur so gut gefiel. Die Erwachsenen fanden es zwar zu gefährlich, mich als Mädchen alleine gehen zu lassen, doch die Abwechslung half mir auch, Teheran schneller zu vergessen.
So vergingen die ersten Monate in der neuen Umgebung, und schon bald hatten wir uns an das neue Leben gewöhnt. Doch was sich so unbeschwert anließ, währte leider nicht sehr lange.
Aus für uns zunächst unerklärlichen Gründen wurden die Rentenzahlungen an meinen Vater eingestellt, und seine Depressionen wurden so heftig, dass er sich schon bald in ein Krankenhaus begeben musste. Meine Mutter hatte mit uns fünf Kindern alle Hände voll zu tun und keine Sekunde Zeit, sich in Teheran nach der ausbleibenden Altersversorgung meines Vaters zu erkundigen. Unsere Geldsorgen wuchsen von Tag zu Tag …
Inzwischen war es Winter und klirrend kalt geworden. Weil ich nun das Fahrgeld nicht aufbringen konnte, fuhr ich nicht mit dem Bus zur Schule. Ich stapfte tapfer durch hohen Schnee, der mir mal bis an die Knie, mal sogar bis an die Hüften reichte. Bewaffnet war ich auf diesen Wegen immer mit einem Knüppel, um mir die vielen streunenden Köter vom Hals zu halten, die mir unterwegs schwer zu schaffen machten. Wenn ich zitterte, vermochte ich selten zu unterscheiden, ob es vor Kälte oder vor Angst war. »Lernen, lernen und noch mal lernen!«, hatte mein Vater uns eingetrichtert. Und ich wollte mich auch nach Kräften bemühen, aber diese Kälte auf meinen Schulwegen raubte mir schier die Kraft. Dann fiel mir wieder ein, was uns der Grundschullehrer in Teheran immer wieder gesagt hatte: »Kinder, habt keine Angst vor harten Zeiten. Die werden euch formen, euch stark machen und vielleicht mehr prägen als die guten Zeiten.«
Doch auch wenn ich mir stets aufs Neue vornahm, eines Tages eine starke, mutige Frau zu werden, war ich immer heilfroh, wenn ich die Strecke bis zum alten Friedhof unverletzt überstand. Lag der alte Friedhof erst hinter mir, ging es auf befestigten Straßen weiter, und es lauerten auch keine hungrigen Hunde mehr. Meinen Schulkameradinnen verschwieg ich, dass mir, lange vor dem Ende der letzten Stunde schon, ein dicker Kloß im Hals saß: Während sie bequem mit dem Bus nach Hause kämen, lag vor mir der beschwerliche Weg durch Eis und Schnee.
Meine Mutter beschloss, sich eine Arbeit zu suchen, weil die Rentenangelegenheit meines Vaters weiterhin ungeklärt blieb. Sie fand tatsächlich bald eine Stelle als Kindergärtnerin in unserem Stadtviertel, und fortan ging es uns finanziell etwas besser. Unser Leben wurde ruhiger, wir hatten Geld für Heizöl und eine warme Mahlzeit am Tag. Mein Vater hatte sich in der Zwischenzeit etwas erholt, wurde aus dem Krankenhaus entlassen und hatte wieder etwas mehr Zeit, sich besonders um unsere kleinen Geschwister, Farhad und das Nesthäkchen Schadi, zu kümmern. Um mir den weiten Weg zur Schule zu ersparen, wechselte ich im folgenden Schuljahr in die Namdschu-Schule, die näher bei unserem Haus lag.
Eines Nachmittags rief mich die Schuldirektorin in ihr Büro und herrschte mich an: »Was denkst du dir eigentlich dabei, dich so ans Reck im Pausenhof zu hängen?« Ich schwieg und
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