Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
dann?«
»Behnam-e khoda«, antwortete er, »im Namen Gottes, diese Frage habe ich mir in der Tat oft gestellt: Was tätest du, wenn sie deine Tochter wäre? Da ich hier aber als Vertreter des Gesetzes stehe, muss ich sagen, dass ich mich an dieses Gesetz halten werde, auch wenn es uns manches Mal die Hände zu binden scheint und wir oft nicht so können, wie wir vielleicht gerne wollen.«
Ich war erschöpft und nicht besonders glücklich mit seiner Antwort: »Ich weiß nicht, welches Unrecht ich begangen habe, das Gott dazu bewogen haben mag, die Wege unserer beider Familien zusammenzuführen. Dass es ihm gefallen hat, mein Herz zu brechen, mit all der Ungerechtigkeit, die mir widerfahren ist.«
Ich nahm meine Brille ab, damit alle erneut sehen konnten, dass ich blind war. Ich ließ ihn und alle Anwesenden im Saal meine Augenhöhlen sehen: »Schauen Sie, wie es mir geht«, sagte ich, »und versuchen Sie sich vorzustellen, was ich durchgestanden habe und was mir noch alles bevorsteht. Ist es nicht ein kleines Wunder, dass ich nicht verrückt geworden bin? Dass ich heute hier sein, für mich selbst sprechen und mich verteidigen kann?«
Die Richter – so berichtete mir mein Vater später – hatten Tränen in den Augen. Und so stand es später auch in den Zeitungen. Meine Eltern, meine Familie, alle im Saal waren zu Tränen gerührt. Was hatte Gott mit so viel Unrecht gegen einen einzigen Menschen nur beweisen wollen?
Endlich wurde Madschid in den Zeugenstand gerufen, ermahnt, Haltung anzunehmen und seine Sicht der Dinge darzulegen: »Ameneh war ständig hinter mir her, wo ich ging und stand, war sie mir auf den Fersen. Meinen Stundenplan kannte sie auswendig – fast besser als ich selbst. Sie war wirklich ständig hinter mir her.«
Drei Jahre Gefängnis hatten ihn also nicht einsichtiger und klüger werden lassen.
Er redete weiter, bis er schließlich einen erstaunlichen Fehler machte. Er widersprach sich in allen Belangen. In einer geradezu detailversessenen Art und Weise schilderte er fast alles, was mit meinem Leben zu tun hatte. Er kannte meine Noten, er wusste, wann ich das Haus verließ und wann ich wieder zurückkehrte. Er kannte meine Stundenpläne, Arbeitszeiten, den Weg zur Arbeit, die Buslinie … einfach alles. Im Westen nennt man dieses Verhalten wohl »Stalking« – ich empfand es einfach nur als eine krankhafte Besessenheit.
»Tausend Toman hab ich damals täglich ausgegeben, um sie bis zu ihrer Firma zu verfolgen, sie zu sehen und wieder heimzufahren.« So viel Mühe hatte er sich jeden Tag gemacht, statt das Geld sinnvoller zu investieren – vielleicht in einen ansehnlichen Tschador oder gute Schuhe für seine Mutter.
»Wann und weshalb hatten Sie den Eindruck oder das Gefühl, dass Frau Bahrami auf Sie eingeht?«, wollte der Richter wissen.
»Nein, nein, so war’s ja gar nicht!«, antwortete Madschid und brachte den Saal zum Lachen. Ob seine Schwester oder die Anwältin ihm wohl geraten hatten, Tatsachen abzustreiten oder ins Gegenteil zu verkehren? Wenn dem so war, so setzte er diese Ratschläge nur ungeschickt um.
»Sie hat zuerst um meine Hand angehalten. Nicht umgekehrt«, stammelte Madschid wirr vor sich hin. Der Richter setzte zum Gegenschlag an: »Sind wir hier denn in Indien, dass die Frau um die Hand des Mannes anhält?«
»Sie hielt um meine Hand an. Ich lehnte ab. Später aber fand ich sie dann doch nett …«
»Und wieso kam es dann zu dieser Tat, wenn ihr so ineinander verliebt wart?«, wollte ein Beisitzer wissen. »Man hätte doch eher erwartet, dass ihr vielleicht eine Familie gründet. Stattdessen hat diese junge Frau ihr Gesicht verloren. Hast du ihr Bild gesehen?«
Der Richter zeigte ihm ein Foto von mir, auf dem ich unversehrt war. Ich erinnere mich noch so gut daran: mein lebensfrohes Lächeln, meine strahlenden Augen, die schönen Zähne, mein volles Haar unter einem Kopftuch mit Leopardenmuster verborgen, ein paar Strähnen schauten hervor …
»Erkennst du Frau Bahrami auf diesem Foto wieder?«, fragte der Richter. Madschid reagierte aufgebracht: »Das ist ein Foto von früher, aus ihrer Jugend. Das ist kein aktuelles Foto.«
»Frau Bahrami ist noch immer jung, mit neunundzwanzig Jahren ist man nicht alt. Du hast ihr das angetan. Deinetwegen sieht sie heute so verändert aus.«
»Nein«, fuhr Madschid hoch, »das war nicht ich, das war sie selbst!« Ein Raunen der Entrüstung ging durch den Saal!
»Dann erzähl uns doch, wie es dazu kam«, forderte der
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