Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
ihrer jüngsten Tochter, falls die je einen Heiratsantrag ablehnen sollte. Meine kleine Schwester arbeitet jetzt in der Firma, in der ich vor dem Attentat angestellt war. Wenn sie auch nur fünfzehn Minuten später heimkommt als geplant – vielleicht auch noch ihr Handy ausgeschaltet hat –, stirbt meine Mutter tausend Tode. Wie ginge es Ihnen selbst, wenn ein junger Mann, der weder Ihnen noch Ihrer Tochter zusagt, um die Hand Ihrer Tochter anhielte, Sie seinen Antrag ablehnen und er sich mit Säure rächen würde? Das fänden auch Sie schrecklich, oder nicht?«
Er stimmte mir zwar zu, wies mich aber darauf hin, dass man das Urteil, das in nicht absehbarer Zeit gesprochen werden würde, nicht mehr anfechten könnte. Das Gespräch ging seinem Ende entgegen. Wir bedankten uns, dass er sich Zeit für uns genommen hatte, und ich stieß Mama nun, wie zuvor vereinbart, sanft mit dem Ellenbogen in die Seite. Nun war es an ihr, eine Sache anzusprechen, von der auch ich erst vor wenigen Tagen erfahren hatte: Eine entfernte Cousine war einem Betrüger und Heiratsschwindler aufgesessen und hatte nun die größte Mühe, ihre Verlobung zu lösen. Sie wartete schon seit über einem Jahr auf den Abschluss der Sache. Auch die Cousine hatte große Angst, ihr künftiger Exmann könnte sich mit Säure an ihr rächen, wenn er wieder freikäme – weil er das bereits angedroht hatte. Meine Mutter sagte: »Ich finde, schon die Androhung einer solchen Tat müsste unter Strafe stehen.«
Dass der Ankläger unseren Vorschlag aufgriff – »dieser Aspekt ist bedenkenswert« –, macht mich heute noch stolz. Denn seit unserer Initiative steht die Androhung eines Säureattentats tatsächlich unter Strafe: fünf Jahre Haft, sofern die Klägerin diese Androhung nachweisen kann.
Hatte ich vielleicht schon einen Teilsieg errungen? Die Begeisterung darüber hielt mich freilich nicht lange aufrecht. Auf meine Hochstimmung folgte – fast wie ein physikalisches Gesetz – bald das unumgängliche Tief.
Ich fühlte mich in zunehmendem Maße niedergeschlagen und wurde immer ängstlicher. Mein Bruder Mohammad verkraftete diesen Anblick auf Dauer nicht mehr. Manchmal stand er mit einem Knüppel in der Hand an der Wohnungstür, weil er Angst hatte, jemand könnte einbrechen und mir etwas antun. Ich wiederum hatte Angst, Schadi könnte etwas zustoßen. Und wenn das Telefon klingelte, dachte ich sofort: »Da ruft jemand an, der mir schaden will.« Ich musste ein weiteres Mal alle meine Selbstheilungskräfte mobilisieren.
Am 29. September gab es gleich zwei Gründe zu feiern: meinen Geburtstag und meine Rückreise nach Barcelona am folgenden Tag. Freundinnen, Verwandte und Nachbarn kamen, um zu gratulieren. Wir lachten und tanzten, wobei wir uns bemühten, nicht zu laut zu sein, um nicht in Konflikt mit den Sittenwärtern zu kommen, und genossen die letzten gemeinsamen Stunden. Meine Gäste brachten Geschenke für mich und auch für meine Ärzte – als Zeichen der tiefen Dankbarkeit dafür, wie gut sie sich um mich kümmerten. Viele Gäste gaben mir auch ihre Wünsche mit auf den Weg: »Vergib ihm, Ameneh!«, war die meistgehörte Abschiedsformel.
Wussten diese Menschen, was sie von mir verlangten? Und hatten sie auch nur ein einziges Mal versucht, sich in mich hineinzuversetzen? Und wenn – würden sie ihm an meiner Stelle auch vergeben können? Eine Nachbarin schlug sogar vor: »Heirate ihn. Dann muss er zur Strafe bis ans Ende seiner Tage für dich sorgen.« Meine Güte, es gab tatsächlich noch Leute, die nicht verstanden hatten, worum es hier ging. Ich war keine Schachfigur, die man nach Belieben dorthin schob, wo es aus mehr oder weniger nachvollziehbaren taktischen Gründen gerade zu passen schien. Ich war eine Frau mit eigenen Gefühlen und eigenen Rechten. Ich musste mich keinesfalls so tief erniedrigen, mit diesem Verbrecher zusammenzuleben, denn eines hatte ich mir in all den Jahren bewahrt: Ich war selbstständig.
»Gut, dass du fährst, Ameneh, dann fällst du deiner Mama nicht mehr so zur Last«, hatte eine Nachbarin am Tag meiner Rückreise nach Barcelona gesagt. Sehr direkte Worte, für die ich ihr nicht einmal böse sein konnte. Mich zu betreuen war für meine Mutter ganz gewiss nicht einfach. Nun freute ich mich auf meine Freundin Maria und ihre Tochter Natalia. Sie ließen mich beinahe vergessen, dass ich in Barcelona keine Familie hatte. Ein schönes Gefühl.
Kaum in Barcelona angekommen, ging ich zum Friseur, machte einen
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