Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
Richter Madschid auf.
»Wie gesagt, sie hielt um meine Hand an, ich sagte erst Nein, fand sie dann doch nett, und dann wollte sie mich nicht mehr.«
»Erzähl uns vom Tag der Tat.«
»Ich hab von neun bis halb fünf vor ihrer Firma gewartet. Und als sie dann rauskam und sich auf den Heimweg machte …«
Die Zuhörer wurden unruhig. Mariam flüsterte mir zu: »Er versucht ständig, seine Hand zu verbergen. Damit man die Verätzungen nicht sieht, die er bei dem Attentat selbst davongetragen hat.«
In Gedanken ging ich wieder durch den Ressalat-Park, sah die Brücke vor mir, hörte Männerstimmen hinter mir, wollte ausweichen …
»… und da habe ich ihr die Säure ins Gesicht gekippt!«
Im Saal war es in diesem Moment ganz still. Als ob allen der Atem stockte. Keine Stimme, kein Räuspern, kein Knarren von Stühlen – nichts war in jenem Augenblick zu hören. »Und dann habe ich ihr die Säure ins Gesicht gekippt.« Zehn Worte, die ein unmenschliches Schicksal besiegeln.
Zehn Worte, deren zerstörerische Wucht kaum zu ermessen war.
Mehr als sieben Stunden hatte er auf mich gewartet. Stunde für Stunde mit dieser zerstörerischen Karaffe an seiner Seite. Stunden, in denen er vermutlich an nichts anderes dachte als an den Moment, in dem er mich angreifen würde. In vielen Staaten dieser Welt untersuchen die Gerichte bei schweren Körperverletzungsdelikten oder Kapitalverbrechen die alles entscheidende Frage nach dem Vorsatz. Hatte ein Täter sein Verbrechen geplant, oder handelte er vielleicht im Affekt? Aber wie vorsätzlich musste dieses Attentat begangen worden sein, wenn man einen halben Tag auf sein Opfer lauert?
Wie ich erst später erfuhr, hatte Madschid sogar an mehreren Tagen auf mich gewartet. Mal seien zu viele Menschen im Ressalat-Park unterwegs gewesen, und ein anderes Mal wäre ich wohl schon zu nah an der Polizeistation gewesen, die in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Park lag. Und das war ihm offenbar zu gefährlich – denn erwischt werden wollte Madschid natürlich nicht.
Stattdessen hatte er sich, so heißt es, nach dem Angriff zunächst feige davongeschlichen, um sich dann – nachdem sich eine Menschentraube um mich gebildet hatte – mit glühenden Augen und geifernder Befriedigung an meinem Leiden zu ergötzen. Wie dunkel nur konnte manche Seelen doch sein.
Der Richter setzte nach einem kurzen Moment des Innehaltens seine Befragung fort. Ihn interessierten die Einzelheiten aus der Zeit vor der Tat: »Wieso warst du sicher, dass Frau Bahrami dir eine positive Antwort geben würde?«
»Ich hab’s an ihren Augen gesehen. Außerdem hat sie mich mal gefragt, ob ich in Afsarieh wohne. Sie hätte mich da mal gesehen. Das hieß doch, sie würde vorbeikommen und um meine Hand anhalten.«
»Das hörst du aus dieser Frage heraus? Was bedeutet denn Verliebtsein, deiner Meinung nach? Woran erkennt man, dass man in jemanden verliebt ist? Oder umgekehrt, dass sich jemand in dich verliebt hat?«
»Ich hab ihren Herzschlag gespürt. Jedes Mal, wenn sie an mir vorüberging.«
Ich weiß noch, wie oft ich zu meiner Kommilitonin Nargess gesagt hatte: »Wenn ich irgendwo allein mit ihm sein müsste, ich würde die Beine in die Hand nehmen und laufen, so schnell ich nur kann.« Er hatte mir immer Angst gemacht. Und diese Angst, mein Herzklopfen, muss er wohl gespürt haben.
Nun wandte der Richter sich wieder an mich: »Frau Bahrami, Sie haben bisher neunzehn Eingaben gemacht, um das Recht auf Vergeltung zu erwirken.«
»Ja, und heute bitte ich zum zwanzigsten Mal darum.«
So oft hatte ich tatsächlich schon in dieser Sache Briefe an das Gericht geschrieben. Jedes Mal, wenn ich aus der Presse oder aus anderen Quellen von Gerüchten erfuhr, dass dieser Verbrecher auf freiem Fuß sei oder aus der Haft entlassen werden sollte, bat ich darum, endlich Vergeltung üben zu dürfen. Für Verbrechensopfer geht es gar nicht immer nur um Rache – die meisten haben schlichtweg davor Angst, dass ihr Peiniger eines Tages zurückkehren und seine schreckliche Tat vollenden könnte. Ich fühlte mich in all den Jahren – und das ist auch heute noch so – im Grunde nur in Barcelona sicher. Zu wissen, dass dieser Mensch mehrere tausend Kilometer entfernt in einem iranischen Gefängnis sitzt, brachte mir nie Genugtuung, aber ein Gefühl von Sicherheit. Dass diese Haftzeit nach zwölf Jahren zu Ende sein würde und Madschid im Vollbesitz seiner Kräfte mir, einer blinden Frau, auflauern könnte – und ich gehe davon
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