Auge um Auge (German Edition)
müssen.«
Kats Mund verzieht sich. Sie will etwas sagen, bringt aber keinen Ton heraus. Ich sehe es ihr an, ihrem Gesicht, ihren Augen. Sie fängt an zu husten, und erst denke ich, sie will auf die Art die Tränen unterdrücken. Doch dann legt sie den Kopf leicht in den Nacken und spuckt Rennie einen dicken Klumpen Rotz ins Gesicht.
Sämtliche Zuschauer schreien auf. »Iiiiih!«
Der Junge sagt: »Um Himmels willen, Kat.«
» O MEIN GOTT !«, kreischt Rennie und reibt sich hektisch übers Gesicht. »Du bist so ein Stück Dreck, Kat!« Sie schaut sich um, sieht, dass alle Augen auf sie gerichtet sind, und ihre Wangen verfärben sich grellrosa. »O mein Gott«, wiederholt sie, doch dieses Mal nur flüsternd, wie zu sich selbst.
Kat geht weg. Unsere Blicke kreuzen sich, als sie an mir vorbeikommt. Ihre Augen blitzen, und mir bleibt fast die Luft weg.
Ich fühle mich, als hätte man mich im Kreis gedreht, unsicher, wo oben und wo unten ist oder wo ich hinsoll. Kann es wirklich sein, dass es so ist, das Leben an der Jar Island High?
Falls ja, dann weiß ich nicht, ob ich auch nur diesen einen Tag hier überlebe.
Ein hübsches, asiatisch aussehendes Mädchen geht zu Rennie und hält ihr ein Papiertaschentuch hin, doch Rennie nimmt es nicht. Erst als ein großer Typ mit braunem Haar sie in den Arm nimmt und ihr seinen T-Shirt-Ärmel anbietet, damit sie sich das Gesicht abwischen kann, gibt sie nach.
»Komm schon, Mädchen«, höre ich ihn sagen. »Prügelst dich am ersten Schultag! Das hast du doch nicht nötig, Ren. Lass dich von DeBrassio nicht in die Gosse zerren ... Aber eins muss man euch lassen: Das sah schon irgendwie scharf aus, wie ihr zwei so aufeinander losgegangen seid.« Er legt den Kopf zurück und lässt ein Lachen heraus, das er offenbar bis zu diesem Moment zurückgehalten hat.
Ich höre es nicht. Ich höre überhaupt nichts. Außer dem Klopfen in meinen Ohren. Alles andere ist stumm. Denn er ist es. Direkt vor mir, nach all den Jahren.
Reeve Tabatsky.
Ich würde ihn überall erkennen: das braune Haar, die römische Nase. Und dann die Augen. Grün wie Seeglas. Er ist größer, sehr viel größer als damals. Breite Schultern, muskulöse Arme. Er hat ein weißes T-Shirt an, dazu eine abgetragen aussehende Khakihose, auf der Stirn sitzt eine Pilotensonnenbrille mit verspiegelten Gläsern.
Als wir jünger waren, war er ein gut aussehender Junge.
Aber jetzt ... jetzt ist er schön.
So schön.
Auf einmal zittern mir die Beine. Ich kann das hier nicht. Ich will wegrennen, mich verstecken, aber ich kann mich nicht von der Stelle rühren. Ich stehe einfach da, wie angewachsen.
Die beiden gehen los. Und kommen genau in meine Richtung. Reeve hat Rennie den Arm um die Schultern gelegt.
Ich halte die Luft an, und während Reeve näher kommt, warte ich darauf, dass etwas in seinen Augen aufblitzt, als Zeichen des Wiedererkennens, irgendwas, egal was.
Aber nichts.
Er geht direkt an mir vorbei, so dicht, dass wir uns fast berühren. Und er bemerkt mich nicht einmal.
Ich fahre herum und starre ihm hinterher. Hat er mich nicht gesehen? Oder war er nur abgelenkt von Rennie, die sich an ihn klammert? Vielleicht hat er mich ja auch gesehen, aber nicht erkannt, weil ich mich so verändert habe. Vermutlich bin ich der letzte Mensch, mit dem er überhaupt rechnet.
Benommen folge ich ihnen ins Gebäude.
Reeve und Rennie biegen in einen Flur ein und werden gleich darauf von einem Schwarm anderer Schüler verschluckt. Ich weiß nicht, wohin; ich streife einfach umher und verdrücke mich schließlich in eine der Mädchentoiletten.
Mein Magen verkrampft sich. Ich gehe schnell in die hinterste Kabine und breche vor der Kloschüssel zusammen. Die Spitzen meiner Haare hängen ins Wasser.
Ich atme ein paarmal tief ein. Ein und aus.
Vielleicht trifft ja auch keine von all den möglichen Erklärungen zu.
Vielleicht war ich es einfach nicht wert, dass er sich an mich erinnert.
04 LILLIA Wir sitzen zusammen an unserem neuen Tisch in der Cafeteria, in derselben Zusammensetzung wie immer – Rennie und ich, Ashlin, Alex, Reeve, PJ , Derek, dazu noch ein paar Jungs aus der Footballmannschaft. Den Tisch haben wir von den Seniors des letzten Jahrgangs geerbt, das ist Tradition so. Jetzt gehört er uns, der sogenannte Star-Tisch, der Mittelpunkt des Geschehens. Am letzten Tag unseres Junior-Jahrs holen die coolsten Seniors die coolsten Juniors zu sich rüber und laden sie ein, mit ihnen zusammen zu essen. Das ist so
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