Auge um Auge - Moonbow #1 (German Edition)
steigerte sich, sie konnte es nicht mehr ignorieren, dazu waren ihre Sinne zu aufdringlich, zu sensibel. Sie hob das Fernglas erneut an. »Scheiße«, hauchte sie, blinzelte und blickte wiederholt hindurch. Ihr Herz blieb beinahe stehen. In einer fließenden Bewegung löschte sie das Bordlicht und riss das Steuer herum. Die Männer trugen Waffen, und auf dem Sandstrand lagen zwei oder drei Personen mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Nackt, die weiße Haut vom Mondlicht beschienen.
View schob den Gashebel ganz nach vorn, obwohl sie in die alles verschlingende Finsternis raste. Das Boot sprang gefährlich über die Wellen, Fahrtwind zerrte an ihrem Haar. Sie sah sich gehetzt um. Wenn sie nicht alles täuschte, nahm eines der Boote die Verfolgung auf. O Gott! Das durfte nicht wahr sein. View drehte das Steuer so, dass sie einen leichten Bogen und dann strikt nach Westen fuhr. Der alte Motor protestierte, doch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Ihr Puls dröhnte in ihren Ohren, und sie verfluchte sich, weil sie so verdammtes Pech hatte, so unvorsichtig gewesen war und die Welt so schlecht zu sein schien. Überall nur Egoismus, Manipulation und Brutalität. Wo waren das Miteinander und der Zusammenhalt der Menschen? Die Liebe?
Ruckartig sah sie nach hinten. Sie hörte leise einen Motor. Die Männer verfolgten sie. Es handelte sich vermutlich um Menschenhändler, die sie gestört hatte. O Gott, o Gott. Wann würde sie endlich aus diesem Albtraum erwachen? Das andere Boot kam näher. Was sollte sie tun? Bald würden sie sie eingeholt haben.
View zuckte fürchterlich zusammen, als etwas sie im Gesicht traf. Sie wischte sich über die Wange. Ein dicker Tropfen. Sie blickte empor, während sie sich bei der halsbrecherischen Fahrt am Steuer festklammerte. Es war sehr viel dunkler geworden. Wolken! Es begann zu regnen. Kaum durchflutete sie Erleichterung, fing der Motor an zu stottern. Das Benzin war alle. Was kam denn noch? Instinktiv drückte View den Gashebel hinunter und würgte den spuckenden Motor ab.
Meeresstille und Dunkelheit umgaben sie, hüllten sie ein wie ein hoffentlich unsichtbar und unhörbar machender Vorhang. Das Boot schaukelte heftig, der Seewind und der raue Ozean rauschten unheilvoll. Regentropfen wirbelten umher, platschten heftiger auf das Deck, auf sie.
Der Motor! Kaum hörbar, aber das Geräusch näherte sich. View drehte den Kopf, lauschte, hielt angstvoll den Atem an. Die Verfolger hatten kein Licht an, so sah man besser und wurde nicht gesehen. Sie meinte, Stimmen zu hören, war sich aber nicht sicher. Bitte, bitte, lass sie mich nicht finden. Bitte!
Dichter werdender Regen verwandelte das Meer in ein schwarzes Loch aus Nichts. Das harte Aufschlagen der Tropfen übertönte inzwischen das Meeresrauschen. Dunkle Wolken und der undurchdringliche Regenvorhang verdeckten den Mond und die Sterne vollständig. Ein niederzerrendes Gefühl der Hilflosigkeit breitete sich aus, vertrieb wieder einmal den Schimmer von Hoffnung. Das Motorgeräusch war wieder leiser geworden und schließlich von der tosenden See gänzlich verschluckt worden. Sie war den Männern anscheinend entkommen, sie hätte wahrlich erleichtert sein können, doch nun dümpelte sie allein in einer Nussschale auf hoher See – ohne Benzin. Einige Wellen stießen so vehement gegen das Boot, dass die Bordkante in die Wasseroberfläche tauchte. Views Zähne klapperten aufeinander, ihre zuvor durch das Adrenalin aufgepeitschte Energie war verbraucht, sie hatte kaum noch Kraft, sich überhaupt festzuhalten.
Der Gewalt der Wellen ausgeliefert, hangelte sie sich wie volltrunken ins Innere des Bootes. Augenblicklich wurde ihr speiübel, sie konnte sich nicht mehr festklammern. Sie zog sich eine Rettungsweste über und zurrte sie fest. Überall Salz. Auf der Haut, in den Augen, im Mund. Durst marterte sie, doch sie schaffte es nicht, sich aufzuraffen. Eingekeilt zwischen einem Schrank und dem kleinen Tisch ließ sie erschöpft den Kopf auf die Knie sinken.
Das Boot knarrte und ächzte, als würde es jeden Moment zerbrechen. Eisiges Wasser spritzte durch die Luke ins Innere. Sie müsste sie schließen, doch sie hatte Angst, sie nicht öffnen zu können, falls sie kenterte. Gefangen im Rumpf unterzugehen, zu ertrinken, schürte den Horror, der in ihr wütete. Entferntes Donnergrollen und helle Blitze verrieten, dass dies nur der Anfang eines schweren Sturms war. Der Himmel hatte sie vor den Menschenhändlern gerettet, doch ob sie
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