Auge um Auge
noch viele Trümmer aus der Vergangenheit. Aber das zählt jetzt alles nicht mehr. Wir sind alle hier, weil uns jemand wehgetan hat.« Ich sehe Lillia an. »Wenn ich eine Schwester hätte und jemand hätte sie verführt, dann würde ich auch wollen, dass er zehnmal dafür zahlen muss. Daran ist doch nichts verkehrt! Eine große Schwester muss sich so verhalten, finde ich. Du machst doch nichts anderes, als deine Schwester zu beschützen. Ich – ich wünschte, jemand hätte das damals für mich getan.«
Lillias Kinn zittert. »Mehr will ich ja auch gar nicht. Nadia beschützen, das ist alles.«
»Wovon redest du überhaupt?«, fragt Kat. »Du bist eine gute große Schwester, Lil. Immer schon gewesen.«
Lil zieht ihren Labello aus der Tasche und tupft damit über die Lippen. »Wir sollten jetzt noch mal den Plan fürs Footballspiel morgen ansehen. Da gibt’s noch eine Menge offener Punkte.«
Und damit wären wir wieder beim Geschäftlichen.
23 KAT Es ist Freitagabend, kurz nach sieben. Ursprünglich wollten wir ein Ersatzteil für Rickys Bike im Laden abholen, aber der hatte schon geschlossen, und nun kurven wir einfach so durch die Gegend. Ich, Ricky und Joe in Joes Fließheckmodell. Ricky und Joe kenne ich durch Pat, meinen Bruder. Beide waren eine Klasse über mir. Joe hat die Schule aber noch nicht abgeschlossen, weil er ständig schwänzt, und Ricky geht aufs Community College. Für Lillia wären die beiden sicher Loser, aber sie sind wirklich voll in Ordnung.
Ich sitze auf dem Beifahrersitz, Ricky schläft auf der Rückbank. »Wohin fahren wir eigentlich?«, frage ich Joe.
»Wo wir auch sonst immer hinfahren«, antwortet Joe mit halb geschlossenen Augen. »Nach nirgendwo.«
»Weswegen sie diesen Sommer ja auch aufgehört hat, mit uns rumzuhängen«, murmelt Ricky verschlafen.
»Stimmt doch gar nicht!«, protestiere ich. Aber es stimmt doch. Meistens war ich mit Alex zusammen. Ich drehe mich nach hinten und boxe Ricky in die Schulter. »Nun komm schon, wach mal auf! Es ist Freitag. Wir machen jetzt was!«
»Du bist wirklich hibbelig, Kat«, sagt Joe. »Sei doch mal locker!«
Klar bin ich hibbelig – gleich beginnt das Footballspiel. Ich lehne mich vor und trommle mit den Händen aufs Armaturenbrett. »Hey, ich hab ’ne Idee. Wir könnten doch mal bei der Schule vorbeischauen, da gibt’s heute Abend ein Spiel. Los, kommt, wir gehen hin und amüsieren uns ein bisschen über die Leute!«
Joe guckt mich an, als wäre ich nicht mehr ganz bei Trost.
Ricky setzt sich auf und fragt: »Football? Kommt nicht in Frage.«
»Kommt schon, Jungs«, bettle ich. »Ich meine, was sollen wir denn sonst machen? Die ganze Nacht durch die Gegend kurven?« Ich öffne meine Tasche und wedle mit einem Tütchen Gras, das ich meinem Bruder gestohlen habe. »Ihr könnt auch rauchen. Ich fahre.«
Das ist ein Angebot, das sie nicht ablehnen können.
Eine halbe Stunde später stehen wir unterhalb der Tribüne an der Endzone. Das Spiel muss jeden Moment anfangen. Lillia steht an der Seitenlinie und macht Kicks und Jumps zum Aufwärmen. Unsere Blicke treffen sich, und sie nickt kurz, bevor sie sich weit hinunterdehnt. Das heißt, es hat alles geklappt. Gut. Nach unserer Unterhaltung im Schwimmbad gestern war ich nämlich einigermaßen beunruhigt. Ich darf Lillia nicht mehr so bedrängen. Denn wenn sie beschließen sollte, nicht mehr mitzumachen, kann ich sie nicht daran hindern. Selbst wenn ich überall in der Schule rumerzählte, was sie Alex angetan hat, würde das niemanden interessieren, nicht nachdem bekannt wird, welche Gründe sie hatte. Ich geb’s nur ungern zu, aber ich brauche sie mehr als sie mich. Ohne Mary wär’s das gestern gewesen. Und was wäre dann aus mir geworden?
Ich nehme einen Zug aus Joes Zigarette. In dem Moment entdecke ich Mary auf der Tribüne. Sie winkt mir aufgeregt zu. Ich sehe zur Seite – trotzdem bekomme ich gerade noch mit, wie verletzt sie auf einmal aussieht.
Ich fühle mich mies. Mary sitzt ganz allein da oben. Aber ich kann sie auch nicht einfach bitten, sich zu mir und Joe und Ricky zu stellen. Die beiden würden Fragen stellen, würden wissen wollen, wer sie ist. Und beim Anblick eines Joints würde Mary vermutlich in Ohnmacht fallen. Es ist also besser so.
24 MARY Ach du Schande!
Ich schaue schnell weg und sinke tief in meinen Sitz. Was bin ich bloß für ein Idiot – Kat mitten zwischen all diesen Leuten zuzuwinken! Unter dem Radar fliegen, das war die Abmachung. So
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