Auge um Auge
unserem Auto rannte, schaute ich immer wieder über die Schulter zurück. Reeve stand unter dem Vordach der Touristeninformation, aber sein Rucksack und seine Schultern wurden nass. Im nächsten Moment gab es einen so heftigen Donnerschlag, dass ich das Echo in meiner Brust spürte. Als ich einstieg, fragte ich Mom, ob wir Reeve nach Hause bringen könnten, und sie war einverstanden.
Er schien dankbar, als wir neben ihm hielten, und setzte sich nach hinten. »Macht es Ihnen auch wirklich keine Mühe?«, fragte er.
»Nicht im Geringsten, Reeve. Ich freue mich, dass ich dich auf die Weise endlich einmal kennenlerne.« Ich wagte es nicht, mich umzudrehen und Reeve anzusehen. Ich fürchtete, er könnte glauben, ich hätte meinen Eltern erzählt, wie gemein er zu mir war und welchen Spitznamen er mir verpasst hatte. Dabei hatte ich ihnen nichts dergleichen erzählt, immer nur die schönen Dinge.
»Wie wär’s, wenn wir beim Autoschalter von Scoops vorbeifahren und uns ein bisschen Eis holen?«, schlug Mom vor.
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, drehte mich nach hinten und sah Reeve an. »Musst du gleich nach Hause?«
Reeve schüttelte den Kopf, flüsterte aber: »Ich hab kein Geld.«
»Kein Problem«, flüsterte ich zurück und lächelte ihn an. Ich wusste ja, dass meine Mom ihn sowieso nicht bezahlen lassen würde.
Mom bestellte Schoko-Chips-Eis, ihre Lieblingssorte, Reeve wollte ein Hörnchen mit Moose-Track-Eis – Vanilleeis mit Schokostückchen und Erdnussbutter. Normalerweise bestellte ich immer eine Kugel Minzeis und eine Kugel Erdnusskonfekt-Eis, aber dieses Mal nahm ich ein Regenbogensorbet, weil das laut Aushang weniger Kalorien hatte.
Obwohl es immer noch in Strömen regnete, rannte Reeve nicht sofort zum Haus, als wir ihn absetzten. Er lief ums Auto herum zur Fahrertür, bedankte sich bei meiner Mutter und sagte: »Bis morgen!« Erst dann lief er die Einfahrt zu seinem Haus hoch.
Wir warteten, bis er sicher zur Tür hinein war, dann fuhren wir los.
Auf dem ganzen Heimweg konnte ich nicht aufhören zu lächeln. Reeve mochte mich. Er war mein Freund. Jetzt würde alles anders werden.
Tatsächlich wurde es anders nach dem Tag. Reeve raste nicht mehr los, sobald die Fähre anlegte, sondern wartete auf mich, und wir liefen zusammen zur Schule.
···
Vor mir sitzen drei Mädels, alle in den Schulfarben rausgeputzt. Eine beugt sich zu den anderen hinüber und sagt: »Himmel, Reeve ist so ein cooler Typ.«
»Ist der noch zu haben?«, fragt eine der anderen. »Oder macht der noch immer mit Teresa Cruz rum?«
Ich halte die Luft an.
»Das ist längst vorbei«, sagt die Dritte. »Jetzt ist er mit Rennie zusammen. Hab ich wenigstens gehört. Sie hatten angeblich schon mehrere Dates.«
Am ersten Schultag war Reeve der Erste, der Rennie tröstete, nachdem Kat ihr ins Gesicht gespuckt hatte. Er hat ihr sogar sein Hemd gegeben, damit sie sich das Gesicht abwischen konnte.
Könnte da was dran sein, dass die zwei zusammen sind?
Ich schaue wieder aufs Spielfeld. Rennie klettert gerade auf die Spitze der Cheerleader-Pyramide. Sie ist so zierlich. Sie dürfte maximal vierzig Kilo wiegen. Ihre Sneakers stemmen sich in die Rücken ihrer Teamkameradinnen, während sie sich immer höher zieht. Einige von ihnen zucken leicht zusammen.
Mädchen wie Rennie kriegen alles, was sie wollen. Egal, auf wen sie dafür treten müssen.
Das ist nicht in Ordnung.
Ich atme endlich wieder aus.
Im selben Moment stolpert Rennie auf ihrem Weg nach ganz oben. Sämtliche Zuschauer bekommen es mit. Einige schreien auf. Sie fällt nach hinten rüber und landet in den Armen ihrer Helfer, die sie sanft und unverletzt auf den Boden stellen. Rennie sieht wütend aus, dass sie es nicht nach oben geschafft hat. Wütend und überrascht. Die Pyramide baut sich nacheinander ab, und Rennie schreit die Mädchen an, sie seien nicht in Form. So laut, dass man es bis zu mir hören kann. Mein Herz klopft wie wild. Das war ich nicht, ganz bestimmt nicht. Das kann gar nicht sein.
Auch wenn Rennie es verdient hat. Auch wenn ich mir eine Sekunde lang gewünscht habe, sie würde runterfallen. Aber nur weil man sich etwas wünscht, passiert es doch nicht wirklich.
Oder doch? An dem Tag damals, im Flur, als ich Reeve hinterherjagte, da wünschte ich mir so sehr seine Aufmerksamkeit. Die Spinde, die alle gleichzeitig zuflogen ... war ich das?
Ich rutsche auf meinem Sitz nach hinten und setze mich auf meine Hände.
Nein. Das kann gar nicht sein.
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