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Augen für den Fuchs

Titel: Augen für den Fuchs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henner Kotte
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Schweiß. Annes Griff ihm in den Arm wurde fester. Ein Schraubstock.
    »Sie lügen. Sie wissen, wer der Mörder war!«
    »Ich weiß nicht, wer es war!«, schrie Miersch. Es klang fast panisch. Dann riss er sich los und ging in den Gastraum zurück. Die Türe pendelte auf, zu, und zeigte Anne kraftlos vor ihren Töpfen. Miersch meinte, ihre Schultern zucken zu sehen. Er stellte seinen Teller ab, suchte nach Besteck und fand nur einen Löffel. Der tat es auch.
    Zweifellos hatte er bei Queißer zu viel getrunken. Aber der alte Major hatte ihm die Augen geöffnet. Er ließ ihn die Akte richtig lesen. Die Indizien wurden in einen folgerichtigen Zusammenhang gebracht. Miersch hatte sie stets falsch interpretiert. Nach Queißers Worten ergaben sie einen anderen Sinn. Ohne Zweifel, Sebastian Popp war der Augensammler. Genau wie sein Vater hatte Sebastian bei jedem der Mordfälle Gelegenheit zur Tat gehabt. Die Familie badete in den Naunhofer Seen. Die Familie. Also auch der Sohn. Der Fokus der Ermittlungen hatte sich stets auf den Vater gerichtet, nicht auf Sebastian. Der Junge war sechzehn Jahre alt gewesen, als er starb. In ihm erwachte die Sexualität. Andere Serientäter hatten vom Aufkommen ihrer perversen Wünsche bereits in der Pubertät berichtet. Sie waren nicht älter als Sebastian gewesen. Darin lag die Lösung des Falles. Queißer hatte sie ihm verraten.
    Miersch hatte Anne eine Freude bereiten wollen. Nur eine Freude. Uneigennützig. Ohne Hintergedanken. Jetzt hatte er alles versaut. Anne stand am Herd und würde ihn nicht mehr sehen wollen, außer er sagte die Wahrheit. Anne … Er hätte es wissen müssen, doch der Alkohol ließ keinen klaren Gedanken mehr zu. Ja, Anne hatte ihm die einzig logische Frage gestellt. Wer war es dann?
    Miersch hatte nicht darüber nachgedacht, was er auf diese Frage antworten sollte. Die ganze Wahrheit konnte er Anne nicht sagen. Jedenfalls nicht so zwischen Gemüsedunst und Bratenduft. Er wusste, dass diese Tatsachen für Anne wahrscheinlich noch schwerer zu ertragen waren. Sebastian, ihr großer Bruder, war der Augensammler gewesen. Der große Bruder, zu dem Anne aufgeschaut hatte – ein Vergewaltiger, ein Perverser, ein Mörder. Sebastian, der ihr Höhlen und Burgen gebaut hatte. Sebastian, mit dem sie durch die Wälder Rad gefahren war. Sebastian, der ihr bei den Hausaufgaben geholfen hatte. Sebastian, mit dem die kleine Anne eine glückliche Kindheit verband. Würde sie diese Wahrheit akzeptieren wollen? Konnte sie es?
    Queißer hatte damals nachvollziehbar und richtig gehandelt. Der Volkspolizist hatte der Familie die Tatsachen einfach verschwiegen, um ihre Katastrophe nicht noch größer zu machen. Die Öffentlichkeit hatte in Hajo Popp den Täter gefunden und sich schließlich wieder beruhigt. Die ganze Wahrheit nützte keinem, auch heute nicht. Hajo ist kein Mörder! Doch Rosel und Anne hatten sich mit der offiziellen Lüge nie abgefunden. Sie suchten noch immer den wirklichen Täter. Es war ihnen zur Lebensaufgabe geworden, Hajos Unschuld zu beweisen.
    Und just da kam er: Konstantin Miersch. Suchte Quartier für eine Nacht und verfiel den schönen Augen der Wirtin. Nur um ihr zu gefallen, grub er die Wahrheit aus dem Archiv und war stolz, sie gefunden zu haben. Natürlich musste er Anne von seinem Erfolg berichten. Natürlich. Keinen Gedanken hatte er daran verschwendet, was sie mit dieser Wahrheit anfangen sollte. Sie stand in der Küche und stellte neue Fragen. Wer war es dann? Er würde ihre Frage beantworten müssen. Irgendwie. Irgendwann. Nicht ihr Vater, der Bruder war der Augensammler. Könnte Anne …? Zweifellos hatte Miersch zu viel getrunken. Was sonst hatte ihm seine Sinne so benebelt?
    Mit dem Löffel konnte er das Schnitzel nicht teilen. Miersch aß mit der Hand. Aus der Küche hörte er keinen Laut. Als wären alle Kessel verdampft, alle Hähne geschlossen. Er würde nicht nachschauen. Er löffelte Kartoffeln und Mischgemüse und hatte Durst auf ein Bier. Er überlegte, ob er es sich selbst zapfen sollte.
    Die Türe öffnete sich leise. Er blickte auf. Gunda kam auf ihn zu und setzte sich still ihm gegenüber. Miersch würgte an einem zu großen Stück Kartoffel und musste husten. Gunda stand nicht auf, um ihm den Rücken zu klopfen. Miersch bekam Atemnot.
    »Opa war nicht der Mörder?«
    Miersch konnte nicht sprechen. Die Kartoffel rutschte ihm wieder zwischen die Zähne.
    »Nein, Gunda, dein Großvater hat die Mädchen nicht umgebracht. Er war nicht der

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