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Augen für den Fuchs

Titel: Augen für den Fuchs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henner Kotte
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Augensammler.«
    Sie schwieg. Er keuchte und biss dann schweigend in sein Schnitzel.
    »Einer muss es aber gewesen sein.«
    »Ja.«
    »Wer?«
    Miersch kaute und wollte nicht schlucken, wollte die Antwort nicht geben. »Ich hätte gerne ein Bier«, sagte er stattdessen.
    »Wer?«
    Der Raum begann sich zu drehen. Die dunklen Wände stürzten auf ihn. Wimpel und Bilder fielen herab. Trachtenpüppchen, Volkskunst und Nippes rutschten von den Regalen. Das Schnitzel geriet zu altem Leder, und er kaute und kaute und kaute. Gundas Gesicht wurde immer größer und noch größer. Wer? Sagen Sie wer! Sagen Sie es! Wer war es? Wer? Die Frage hallte im Raum. Wer? Sagen Sie es! Wer? Endlich hieb eine Faust auf den Tisch. Plötzliche Stille.
    »Sebastian.« Nur das eine Wort. Leise. Ganz leise. Der Name war kaum zu hören.
    »Wer?« Gundas Frage schnitt in seine Ohren.
    »Sebastian. Ihr Onkel ist der Augensammler gewesen.«
    Das war’s. Miersch hatte die Prüfung bestanden, war nervös und unglücklich. Gunda lehnte sich auf der Bank weit zurück. Dann zog sie aus ihrer Hosentasche eine Schachtel Zigaretten, klopfte eine heraus und zündete sie an. Sie rauchte schweigend. Die Asche ließ sie auf Mierschs Schnitzelteller fallen. Er hatte keinen Appetit mehr.
    »Mein Onkel ist der Augensammler gewesen? Ich habe ihn nie gekannt. Mutti hat ihn sehr gern gehabt.«
    »Ja.«
    Als Gunda aufgeraucht hatte, ging sie zum Zapfhahn und servierte Miersch ein Glas Bier. Tropfen liefen über den Rand. Die Tischdecke bekam Flecken.
    »Geht aufs Haus.«
    »Danke.«
    Ja, Miersch hatte die Wahrheit gesagt. Die Popps wollten sie hören. Hajo ist kein Mörder! Sie hatten ihn gebeten, ja, förmlich gezwungen, ihre Familiengeschichte zu recherchieren. Er hatte ihnen den Gefallen getan, hatte sich bereit erklärt, im Archiv nachzulesen. Er hatte die Wahrheit gefunden. Und er hatte ihnen die Wahrheit gesagt.
    Diese Wahrheit zu akzeptieren, fiel Gunda Popp sichtlich schwer. Aber er konnte nichts dafür, dass dies die Tatsachen waren. Queißer hatte ganz recht daran getan, das, was allgemein als Wahrheit hingestellt wurde, die Wahrheit sein zu lassen. Wem nutzte es, den wahren Mörder zu kennen? Miersch fragte sich, ob er in einem Augenblick nicht alles zerstört hatte. Anne versteckte sich in ihrer Küche. Rosel war er überhaupt nicht begegnet. Und Gunda rauchte neben ihm.
    »Warum hat man uns nie die Wahrheit gesagt?«
    »Hätten Sie sie denn hören wollen?«
    Gunda inhalierte und drückte die Kippe in eine Kartoffel. Dann schob sie den Teller weit von sich und zeichnete mit dem Finger Kreise um die Flecken in der Tischdecke. Sie schlug Falten. Gunda zog sie wieder glatt und strich darüber, als würde sie bügeln.
    »Für mich ändert die Wahrheit nichts. Ich habe weder meinen Großvater noch meinen Onkel gekannt. Nur, dass die Erzählungen meiner Mutter und Großmutter jetzt nicht mehr stimmen.«
    »Ja.«
    Gunda lief nochmals zur Theke und kam mit zwei gefüllten Gläsern zurück. Miersch trank sein altes mit einem großen, letzten Zug aus. Gunda wollte mehr von der Wahrheit hören. Sie sah ihn an.
    »Ihr Großvater hat die Wahrheit erkannt: Sebastian war der Augensammler.« Miersch nickte. »Sein eigener Sohn war der bestialische Mörder. Hans-Joachim Popp hat ihn gerichtet. Vielleicht hat er danach nicht mehr leben wollen und sich von der Tenne gestürzt. Vielleicht war das aber auch ein Unfall. Was da wirklich passierte, können die Indizien nicht belegen.«
    »Vielleicht war es so.«
    Sie schwiegen, und Miersch verspürte den Drang nach einer Zigarette. Gunda drückte ihre aus und nahm eine neue aus der Packung.
    »Ihr Großvater hat Ihren Onkel getötet.«
    »Warum hat man uns, seine Familie, belogen? Warum brachte er diese Mädchen um? Warum nahm er ihre Augen? Was hat er mit ihnen getan?«
    Miersch wusste darauf keine Antwort. Queißer hatte recht gehabt, die Akte zu fälschen. Den Täter konnte keiner mehr nach seinen Motiven fragen. Er war tot. Für die Öffentlichkeit hatten sie die plausibelste Lösung gefunden. Für die Öffentlichkeit, nicht für die Familie. »Vielleicht lebt es sich mit kleinen Lügen besser«, sagte er.
    »Das glaube ich nicht.«
    »Jetzt kennen Sie die Wahrheit. Erzählen Sie sie Ihrer Mutter. Von mir möchte sie sie nicht hören.«
    Die Küchentüre schlug gegen die Wand. Rosel Popp kam mit großen Schritten auf ihren Tisch zu. Miersch nahm das Glas, als würde er sich verteidigen müssen. Gunda sprang auf. Rosel ließ

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