Augen für den Fuchs
herrschte im kleinen Raum eine fast heimelige Atmosphäre. An den Wänden hingen keine normierten Kunstdrucke, sondern Kinderzeichnungen. Eine Pinnwand steckte voller Ansichtskarten. Costa del Sol. Jerusalem. Sveti Stefan. Beetz las die Namen der Urlaubsorte, scheute sich aber, auf einem der Stühle Platz zu nehmen. Auf dem Tisch standen die Teller geordnet, in der Mitte ein Blumenstrauß und Kuchen wie zum Geburtstag. Die Maschine brodelte, Kaffeeduft füllte den Raum.
»Wissen Sie, sonntags machen wir’s uns gemütlicher. Wenigstens das Gefühl von Wochenende. Verbringen ja fast jedes zweite hier in der Klinik.«
Beetz tat es nicht ungern, hatte sie doch wochentags frei und Zeit zum Shoppen, auch waren Fitnessstudios und Hallenbäder weniger frequentiert. Sie hatte nichts gegen Sonntagsarbeit. Selbst der Chef und gläubige Katholik Konstantin Miersch war bereit, seinen Gottesdienst und den freien Tag für Ermittlungen und bei großen Fällen sogar für Pressekonferenzen zu opfern. Beetz wunderte sich, dass der Chef noch nicht da war. Die Bereitschaft hatte ihn angekündigt, aber eingetroffen war er auf Station noch nicht. Vielleicht war ja auch alles eine Finte, um sie zu effizienterer Arbeit zu bewegen. Miersch verstand sich auf solche Spielchen. Dabei tat sie ihren Job jeden Tag mit gleichem Engagement und hatte nicht den Eindruck, dass Schabowski oder Kohlund oder der Schmitt nur Dienst nach Vorschrift taten. Das war als Kriminalpolizist auch kaum möglich.
»Wenn Sie sich setzen wollen …«
Die professionelle Abgeklärtheit war der Schwester im Dienstzimmer abhanden gekommen. Auch charakterlich schien sie gewandelt, sie gab sich nicht mehr selbstbewusst, eher devot. Hatte Schwester Monique neben dem Toten noch widersprochen, schob sie ihr jetzt den Stuhl unter den Hintern. Beetz räusperte sich und suchte nach den passenden Worten, um ein Gespräch zu beginnen. Die Zeugin sollte erzählen, nicht nur kurze Antworten geben. Monique nahm auf der vordersten Kante des Stuhles neben ihr Platz und knetete ihre Hände auf dem Tisch. Am Fenster zeichneten die Tropfen das Kanalnetz des Leipziger Neuseenlandes.
»War es wirklich Mord?«, fragte Monique.
Die Krankenschwester war naiv oder eine sehr gute Schauspielerin. Sie hatte den Toten entdeckt, die Spuren der Gewalt gesehen, den Arzt und später die Polizei gerufen.
»Ja«, sagte Beetz.
»Kann ich kaum glauben.«
»Wie lange lag denn Frank Stuchlik auf Ihrer Station?«
Monique sprang abrupt auf, als hätte sie etwas vergessen. Den umkippenden Stuhl fing sie, bevor er auf den Boden knallte. Dann setzte sie sich nachdenklich wieder. »Kann ich Ihnen genau sagen.« Sie strich nicht vorhandene Falten aus ihrem Schwesternkittel.
Beetz war sich nicht sicher, wie sie die heftige Reaktion Moniques deuten sollte und schaute sich Hilfe suchend nach der Kaffeemaschine um. Die lief mit gurgelndem Geräusch.
»Ich hole sein Krankenblatt.« Damit war die Schwester verschwunden.
Beetz lehnte sich im Stuhl zurück und kippelte. Auf dem Gang schlich ein spindeldürrer Mann im Bademantel vorbei. Er sah interessiert zu ihr hin. Sie fühlte sich ertappt wie in der Grundschule. Wir kippeln nicht! Die Stühle gehen kaputt. Volkseigentum! Als sie freundlich grüßte, schlich der Mann ohne eine Regung weiter. In der linken unteren Ecke des Fensters fluteten Regentropfen den Zwenkauer See, den größten im Tagebaugebiet des Leipziger Südraums.
Monique stürmte wieder herein und schwenkte die Akte wie eine Trophäe. Sie blätterte eifrig und fuhr mit dem Finger über die betreffende Zeile. »Hier, sehen Sie, Stuchlik, Februar, der Neunzehnte. Sein Hausarzt hat ihn überwiesen. Krankenwagen. Wir dachten, er stirbt.«
»Diagnose?«
»Magenkrebs. Metastasen im ganzen Körper. Da gibt’s keine Hoffnung.«
»Wusste Frank Stuchlik, wies um ihn stand?«
Monique atmete tief. Der See an der Scheibe wurde größer. »Ich denke, dass es ihm die Ärzte gesagt haben.«
»Sie haben es nicht getan?«
Monique straffte ihren Rücken. »Wir sind Pflegepersonal und übermitteln weder Diagnosen noch Todesurteile.« Ein wenig ihres vorherigen Selbstbewusstseins war wieder erkennbar. »Aber ich denke, er hat es gewusst. Glauben Sie mir, jeder ahnt, wenn es zu Ende geht. Fast zwanzig Jahre tue ich Dienst hier. Ich habe oft Sterbenden die Hand gehalten. Jeder weiß, wenn es kein Zurück mehr gibt.«
Diese Erkenntnis blieb keinem erspart. Beetz musste schlucken. Bislang verdrängte sie solche
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