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Augen für den Fuchs

Titel: Augen für den Fuchs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henner Kotte
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Station IIIb, Zimmer 12! Er musste an diesem Bett stehen. Er musste. Ihm schien, als verfolge ihn diese Putzfrau mit drohend erhobenem Besen. Ihre andere Hand im Lappen zur Faust geballt. Mit überschnappender Stimme schrie sie und schrie sie: Der wacht nicht mehr auf! Sie sind schuld an seinem Tod! Mörder!
    Miersch wusste selbst nicht, warum er nicht schon vor langem an Philip Thedes Bett gestanden hatte. Warum hatte er ihn nie besucht? Als Kripochef hatte ihn das Schicksal der Geiselnehmer interessiert, aber nur solange sie auf der Flucht gewesen waren. Mit der Meldung Täter gestellt! Geiseln gerettet! war der Fall für ihn abgeschlossen. Darauf folgten nur noch Berichte, Stellungnahmen, Protokolle. Er hatte allen Kommissionen Rede und Antwort gestanden. Sie hatten an seinen Anweisungen und Handlungsvorgaben nichts auszusetzen. Über Details konnte man diskutieren, sie diskutierten darüber. Miersch hatte alle internen Untersuchungen ohne Kritik, ohne Makel, ohne Verfehlung überstanden. Miersch hatte die Sache im Griff. Er hatte gelächelt, bis Simona Thede öffentlich um das Leben und den Ruf ihres Sohnes kämpfte und Joseph Hönig sich ihre Story zu eigen machte. Die Leiden der Mütter, unangemessene Brutalität der Polizei.
    Gesenkten Kopfes durchschritt Miersch Hallen und Gänge, stieg Treppen hoch, las die Hinweisschilder. Blumen bitte abgeben. Sekretariat. Durchgang verboten. Er wusste nicht, wo er war. Plötzlich stand er an der Rückfront des Hauses und blickte auf eine Wiese. Regen prasselte gegen die Fenster. Am Horizont grasten Kühe. Die hielten es aus. Das Wetter. Das Melken. Dass sie zur Schlachtbank geführt wurden.
    Es knisterte, knackte. »Doktor Appelt bitte die Zwölf. Doktor Appelt bitte die Zwölf«, tönte es aus einem unsichtbaren Lautsprecher. Es war wie in einer Krankenhausserie, gleich würden Professor Simoni und Oberschwester Ingrid um die Ecke biegen und ihn in den Schockraum transportieren. Weißkittel rannten umher. Betten fuhren ihm vor die Füße. Miersch musste sich abstützen, um nicht zu fallen.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    Miersch erschrak. Hinter ihm stand nicht Oberschwester Ingrid, sondern eine Schwester Marie, las er am Brustschild.
    »Station IIIb, Zimmer 12?«
    »Treppe nach oben, dann links. Sie müssen klingeln.«
    Er lief wie in Trance.
    Die Geschichte der Deutschen Volkspolizei versteht sich als Teil der Geschichte des Entstehens und der Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik.
    Jemand rief: »Und so was wie Sie leitet die Kriminalpolizei! Einfach unglaublich!«
    Miersch versuchte seinen Verfolgern zu entkommen und jagte durch Gänge. Er las Durchgang verboten! Die Tür ließ sich wirklich nicht öffnen. Joseph Hönig krakelte Schlagzeilen. Kein Mitleid. Keine Regung. Der Mann ist eiskalt. Miersch bog um Ecken und sah in endlose Flure. Schwester Marie wiederholte in einer endlosen Schleife: Treppe nach oben, dann links. Treppe nach oben. Sie müssen klingeln. Treppe nach oben. Klingeln! Margo sagte Liebling und sprach nicht mit ihm. Eine Klospülung rauschte. Die schlampige Reinigungskraft schrie noch immer. Sie tragen die Schuld an seinem Tod! Miersch durchquerte einen Wartebereich. Bitte auf Diskretionsabstand achten! Er stand in einer Toilette und spritzte sich Wasser übers Gesicht. Er atmete schwer.
    Besucher bitte anmelden. Dann ein Pfeil zum Klingelknopf. Miersch drückte darauf. Weit hinter der Glastür klang es wie Kuhglocken in den Schweizer Alpen. Schritte näherten sich.
    »Sie wünschen?« Der Kittel stand der Schwester gut. Die Haare trug sie im Pferdeschwanz. Ihre muskulösen Beine steckten in alten Gummischlappen. Ihre Stimme war unterkühlt.
    »Ich bin Konstantin Miersch.«
    »Besucher?«
    »Sehe ich wie ein Patient aus?« Miersch war versucht, alle Verantwortung abzugeben und sich sofort einweisen zu lassen. Freundliche Menschen wie diese Schwester würden ihn pflegen. Ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen. Nicht mal auf Toilette müsste er gehen. Es wäre wie im Paradies. Sie wünschen? Daunendecke und ein Schokoeis.
    Unter Aufbietung aller Konzentration sagte er: »Ich möchte zu Philip Thede.«
    Die Schwester nickte freundlich und gab ihm den Weg frei. »Dritte Tür rechts.«
    Miersch fragte sich, was er hier wollte. Er handelte unter Zwang, ferngesteuert. Er hatte die Konfrontation nicht gewollt. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er fühlte sich ungerecht behandelt. Von allen. Robert Zehmisch und Philip Thede waren Mörder.

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