Augen für den Fuchs
Aber die öffentliche Ruhe und Ordnung musste gewährleistet werden. Dafür zu sorgen, war sein Job. Jetzt stand Miersch vor einem Krankenzimmer und traute sich nicht, die Tür zu öffnen. Er drückte langsam die Klinke und hatte das Gefühl, gleich eine Explosion auszulösen.
Im Zimmer war es sehr still. Das Bett stand in der Mitte des Raumes. Miersch trat näher. Unter der Decke verschwunden lag Philip Thede. Die Hände auf dem Überbett. Die kraftlosen Muskeln zogen seine Finger in eine unnatürliche Stellung. Sein Atem ging röchelnd. Er war fast noch ein Knabe. Die Gesichtszüge kindlich. Kaum Bartwuchs. Am rechten Auge ein Muttermal. Rot, fast violett. Der junge Mann hatte den Mund leicht geöffnet. Speichel tropfte seine Wange hinunter. Die Augen blickten Miersch an und durch ihn hindurch. Die Lider flatterten. Philip Thede schien sprechen zu wollen.
»Miersch. Konstantin Miersch. Ich war der Einsatzleiter, der eure Flucht beenden musste.«
Der Patient gurgelte. Miersch interpretierte das als Gesprächsangebot. Philip verstand ihn. Und wenn Philip ihn verstehen konnte, dann lag er mitnichten im Koma. Der Kriminaldirektor war sich sicher, der vor ihm liegende Kerl war putzmunter. Philips Mutter, der Hönig, die Kollegen – sie hatten ihn alle belogen! Es war eine unglaubliche Intrige. Die kämpften mit allen Mitteln. Sie wollten ihn zur Abdankung zwingen. So nicht! Aber klar, er hätte viel eher mit dem Jungen reden müssen. Philip hätte ihn verstanden. Das unwürdige Nachspiel wäre nicht eingetreten. Verdammt! Nach fast vierzig Jahren im Beruf hatte er sich gehörig verladen lassen. Doch jetzt hatte er begriffen. Jetzt würde er kämpfen.
Unser herzlicher Dank gilt den Genossen des Institutes für Marxismus-Leninismus und jener Reinigungskraft aus dem Foyer, sie haben wertvolle Hinweise gegeben. Sie leben hoch, hoch, hoch!
Miersch sprach zum Jungen im Bett vor ihm: »Philip, ich habe den Einsatz geleitet, die Kräfte koordiniert. Warum haben Sie unsere Gesprächsangebote nicht wahrgenommen? Warum musste die Lage eskalieren? Sie hätten doch nur mit uns reden müssen! Verdammt! Reden!«
Mierschs Hände umklammerten das Bettgestell. Er rüttelte dran. Es bewegte sich keinen Millimeter. Philip wackelte mit dem Kopf, krächzte, schien die Hände zu heben. Unglaublich! Der wies alle Schuld von sich.
Das kann doch nicht wahr sein! Miersch kochte vor Wut und war so weit, dem Simulanten endlich die Meinung zu sagen. Er schrie: »Ich trage keine Schuld! Du bist der Mörder! Du und dein Freund!«
Eine Klingel schrillte. Die adrette Schwester kam ins Zimmer, setzte sich auf die Bettkante und versuchte, den Patienten zu beruhigen. Sie streichelte ihm Stirn und Hände. »Sch, sch, sch.« Sie pustete Philip Thede ins Ohr. »Sch, sch, sch. Alles wird gut. Keine Angst.«
»Der hat mich verstanden. Alles versteht der. Jetzt muss er reden!« Miersch stürzte auf die Krankenschwester zu, versuchte, sich zwischen sie und Philip Thede zu drängen.
Sie hinderte ihn, schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich keine Hoffnung. Manchmal sieht es so aus, aber er lebt nicht in unserer Welt.«
»Der spielt Ihnen was vor! Keine Ahnung, wie er das macht.«
Die Schwester lächelte milde. »So kann keiner lügen.«
Der Patient atmete wieder stiller, scheinbar beruhigt. Die Schwester sah Miersch ins Gesicht. »Zum ersten Mal hier?«
Miersch nickte mehrmals, als wäre er ein Kleinkind. »Alle geben mir die Schuld an seinem Zustand.«
»Die Mutter kämpft, möchte dass es ihm besser geht, dass er alle Hilfe bekommt. Würden Sie nicht auch alles für Ihr krankes Kind tun? Selbst wenn es straffällig wurde. Er ist doch ein Mensch.«
Alles fürs Kind? Elisabeth und Bernadette hießen seine Töchter. Namen, die Margo ausgesucht hatte. Sie studierten, besuchten ihre Eltern selten. Bernadette hatte seinen Navigator noch immer in Eichstädt. Gerade heute hätte Miersch ihn gebraucht. Neurophysiologisches Rehabilitationszentrum Leipzig. Er hätte das Zentrum schneller gefunden. Doch jetzt war er da. Jetzt musste er sich mit Philip Thede nur noch aussprechen, dann hatte diese Hetzjagd endlich ein Ende. Er war wieder ein freier Mann und konnte freie Entscheidungen treffen, ohne dass ihm die Presse Vorwürfe machte. Der Entwicklungsweg der Deutschen Volkspolizei ist begleitet von erbitterten Klassenauseinandersetzungen …
»Haben Sie Kinder?«
Für Momente wusste Miersch nicht, wo er sich befand. Er hatte nur eines begriffen: Simona
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