Augen für den Fuchs
Thede und Joseph Hönig hatten ihn nach Strich und Faden belogen. Und alle spielten da mit. Unverschämtheit! Dass er das nicht eher durchschaut hatte, er musste sich wundern. Vielleicht war er doch im Job überfordert. »Kann ich jetzt bitte mit Philip Thede reden?«
»Natürlich.« Die Schwester trat beiseite. »Nur wird er kein Wort verstehen.«
»Was wissen Sie denn!« Miersch trat an das Bett, versuchte in Philips Augen zu schauen und blieb an einem Muttermal hängen. Das schien sich immer mehr ins Schwarz zu verfärben. Wurde es größer?
»Sag deiner Mutter, dass ich unschuldig bin. Die Katastrophe habt ihr zu verantworten. Du und dein Freund. Der ist tot. Und einen Freispruch wird es für dich nicht geben. Wage nicht, allen etwas vorzuspielen! Du verdammter Rotzlöffel! Mörder! Du Schwein!«
Miersch hätte den Patienten geschlagen, wäre ihm nicht die Schwester in den Arm gefallen. Ihm standen Tränen in den Augen. Philips Muttermal hatte die Seiten gewechselt und glänzte jetzt links überm Auge.
»Beruhigen Sie sich!«
»Der spielt Ihnen doch was vor. Sind Sie so blöd, dass Sie das nicht merken?«
Miersch kämpfte. Es kam zum Gerangel. Ein Gerät gab wieder Alarm und leuchtete rot, rot, rot. Eilige Schritte kamen den Gang entlang. Dann flog die Tür auf.
»Raus! Aber sofort raus hier!«
Ein kräftiger Arzt schrie ihn an. Sein Bauch hing über dem Gürtel. Das Doppelkinn war sein Hals. Er drehte Miersch den Arm auf den Rücken. Polizeigriff. Miersch hatte ihn selbst jahrelang trainiert.
»Wie ist dieser Mann in das Zimmer gekommen?«
»Wir sind doch immer froh, wenn Bekannte zu Besuch kommen und mit ihnen sprechen. Ich dachte, das tut dem Patienten gut. Kann ich ahnen …«
Jetzt beschuldigte ihn auch noch die Schwester. Miersch versuchte, sich aus dem stahlharten Griff zu befreien. »Ich bin unschuldig! Ich kann nichts dafür, dass der hier liegt!«
Die Schwester kam nah an sein Gesicht, gleich würde sie Sch, sch, sch machen und ihm ins Ohr blasen. Er war kein Kleinkind!
»Ich kann nichts dafür!«, brüllte Miersch.
»Das hat auch keiner behauptet.«
Der Arzt lockerte seinen Griff nur leicht und schob Miersch vor sich her aus dem Zimmer, wobei ihn die Schwester nicht aus den Augen ließ. Als bräuchte Miersch selbst eine Behandlung, so wurde er von ihr gemustert.
»Sie habe ich noch nie bei dem Patienten gesehen.«
»Mein Name ist Miersch. Kriminaldirektor Konstantin Miersch.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Der Arzt reichte ihm tatsächlich die Hand.
»Seine Mutter gibt mir die Schuld. Aber Philip Thede ist ein Mörder und Erpresser. Geiselnahme. Sie erinnern sich sicherlich …«
»Ja. Aber der Junge liegt seit Wochen im Koma. Wir wissen nicht, ob er jemals aufwachen wird.«
»Spielt er Ihnen nichts vor? Mich hat er gerade sehr gut verstanden.«
»Nein, Herr Miersch, das sieht nur manchmal so aus, als würden diese Patienten begreifen. Nichts, da ist nichts. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, dass der Junge die Welt irgendwann wieder wahrnimmt. Manche haben das nach Jahren wieder geschafft.«
»Ich bin nicht schuld!«
»Natürlich nicht.« Der Arzt hörte sich an, als würde er durch ein Ofenrohr sprechen. »Aber eine Mutter wird kämpfen, mit welchen Mitteln auch immer.«
Miersch glaubte, nicht recht verstanden zu haben. Stand der Arzt auf seiner Seite? Er lächelte freundlich, wie ein Psychiater.
»Aber warum tut sie mir das dann alles an? Warum mir?« Miersch fasste den Arzt an seinem Kragen. Der wehrte sich nicht. Zureden. In Ausnahmesituationen gut zureden. Also gehörte auch er zur Verschwörung dazu, und beinah hätte Miersch ihm vertraut.
»Weil es das Ganze erträglicher macht.«
Was wusste der denn vom erträglicher Machen? So ein Schwachsinn! War Miersch denn nur von Irren umgeben? »Warum tun Sie mir das an?«, fragte er leise.
»Ich will Ihnen helfen. Verstehen Sie? Helfen!«
»Lassen Sie mich mit diesem Schwein reden. Mich wird er verstehen.«
Miersch hörte Schritte. Wie Kanonenschüsse hallten sie durch den Flur. Dann war es endgültig vorbei. Der Supergau. Miersch sah ihr Gesicht. Simona Thede kam auf ihn zu. Sie war riesengroß, wurde noch größer, sprengte den Raum. Und sie war verbissen wie Lara Croft. Massig wie Hella von Sinnen. Laut wie die Merkel beim Wahlkampf. Aber Simona Thede sagte kein Wort. Sie schlug zu. Immer wieder schlug sie auf ihn ein. Er spürte ihre Nägel, die Knöchel, ihre Faust. Er hörte es klatschen. Er hörte sie
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