Augenblick der Ewigkeit - Roman
früh am Morgen gewesen. Schwalben segelten über das schwarze Wasser, in dem sich die Lichter des Nachens spiegelten. Nebelschwaden hingen wie tropfende Tücher über dem Fluß und filterten das Licht der aufgehenden Sonne, die hinter dem Horizont heraufgekrochen kam wie ein roter Gasballon, der erst nach einer Weile zu einer festen Kugel schrumpfte.
» …und was ist das?« Der Vater entlockte seiner Geige langgezogene blökende Laute, und an der Uferböschung hoben weiße Rinder neugierig die Köpfe.
» Das ist doch einfach– eine Kuh.«
» Richtig– und das?« Er drückte den Geigenbogen so fest und breit auf den Geigensteg, daß es kratzte und fauchte.
» Eine Katze, das war doch leicht zu raten.«
» Sehr gut– und jetzt aber das?« Nunmehr summte und brummte der ganze Geigenkörper.
» Eine Hummel…«, der Vater schüttelte den Kopf, » …eine Biene, eine Fliege…«
Seine Zähne blitzten. » Falsch! Mein Brummschädel, weil ich gestern abend zuviel getrunken habe!«
Eine ausgelassene Gesellschaft wartete währenddessen mit einer leeren Sänfte auf die Braut, die am Bug des Nachens stand, ein kaum fünfzehnjähriges Mädchen in einem weißen Hochzeitskleid, umringt von jungen Frauen, die mehrstimmig und mit offenen Kehlen Lieder sangen, die er noch nie vernommen hatte. Als der Nachen anlegte, sprangen der Bräutigam und ein paar junge Burschen in den Fluß, hoben die Braut auf ihre Schultern und trugen sie zum Ufer.
Der Vater hatte aufgehört, auf seiner Geige zu spielen, und blickte wie gebannt zu dem Mädchen hin. Erst als die Braut in ihre Sänfte stieg und den Schleier hob, sah er ihr Gesicht, das ganz mit Goldplättchen bedeckt war. Als die Sänfte an ihnen vorbeigetragen wurde, kam es ihm vor, als lächelte sie dem Vater zu, über dessen Gesicht ein Schatten huschte.
Damals war er noch zu klein, um zu wissen, daß der Tod kein Gevatter mit der Sense war, sondern eine Frau, in der jeder, den sie ansah, etwas unendlich Vertrautes erblickte. Er würde nie erfahren, wen der Vater in ihr gesehen hatte, aber egal, wer es gewesen war– » Sie wußte, wohin wir fuhren und was am Abend noch geschah.«
» Wer wußte was?« Die Frauen unterbrachen das Ankleidezeremoniell.
» Ach nichts. Ich hatte einen dummen Traum…« Er nahm die weiße Schleife von dem Stummen Diener und schaute alle vier ermunternd an. » Was ist– hilft mir denn keiner weiter?«
» Gib schon her…«, Gudrun stellte sich hinter ihn und blickte über seine Schulter in den Spiegel, während sie ihm die Fliege band, » …kannst du es denn immer noch nicht allein?«
Karl schüttelte den Kopf. » In diesem Leben werde ich es nicht mehr lernen.«
» Du hast dich in all den Jahren nicht verändert.«
» Doch! Auch du bist älter geworden, wie wir alle.«
Die Frauen nahmen Abstand und begutachteten ihn. Wie sie im Spiegel tuschelten und seinen Habit vom Scheitel bis zur Sohle prüften, überkam ihn eine so jähe Gefühlsaufwallung, daß er einen tiefen Seufzer ausstieß: » Ich möchte euch alle um Verzeihung bitten…«, und er schloß in seine spontane Abbitte Franziska ein, die in einem blinden Fleck des Spiegels hinter seinen Frauen zu stehen schien.
New York – Samstagvormittag
Franziska, die gerade sehr fest an Karl gedacht hatte, unterdrückte den Wunsch, ihn anzurufen, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Sie wollte erst abwarten, ob er den Brief erhalten hatte und das Schleifchen an seinem Revers trug. Die Tage, die sie mit Joachim verbracht hatte, hatten ihr zu schaffen gemacht. Es war nicht so sehr die Erinnerung an einzelne Ereignisse, sondern betraf ihr ganzes geheimes Leben, all die ungelebten und angestauten Sehnsüchte, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hatten und die plötzlich wie eine Flut uneingestandener Wünsche, kostbarer Träume und unerfüllter Hoffnungen wieder in ihr hochgestiegen waren, so daß sie für einen Augenblick dachte, sie hätte eigentlich nie richtig gelebt.
Sie rief sich innerlich zur Ordnung, während sie in den Spiegel blickte, sich ihr schwarzes Hütchen mit einer Nadel im Haar befestigte und den Netzschleier über die Nase zog. Sie schimpfte sehr eindringlich mit sich selbst, daß sich ihr Leben doch erfüllt und irgendwie vollendet habe: » Franziska, du wirst in ein paar Monaten achtzig Jahre alt und bist dabei, eine Närrin aus dir zu machen!« Bevor sie sich auf den Weg machte, nahm sie sich vor, den Rest des Lebens so zu nehmen, wie er war, sich selbst dabei ganz dem
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