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Augenblick der Ewigkeit - Roman

Titel: Augenblick der Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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am Frackrevers getragen hatte, war wie von Geisterhand verschwunden.

Nizza – zur selben Zeit
    Ein strahlender, mit Harfenklängen umrankter Choral stieg aus der Tiefe in höhere Lagen, schwang sich Akkord für Akkord über die Höhenzüge einer Landschaft hinweg, die nur aus Musik geformt war, die keine Vergangenheit und keine Zukunft kannte, die zeitlos war und Ton für Ton aus Gegenwart bestand. Einem Wanderer gleich stieg er von einer euphonischen Hochebene hinauf zur nächsten. Erratische Blöcke des Wohlklangs säumten seinen Weg über Endmoränen und musikalisches Geschiebe hinauf zum Gipfel. Hier oben war die Luft so dünn, er bekam kaum noch Luft und mußte wie durch einen Strohhalm atmen.
    Mit der Musik schien er davonzugleiten, fort aus den Grenzen des Lebens selbst, bis er in eisigen Regionen dahintrieb, in denen Klänge und Töne zu Kristallen gefroren, und er sich selbst wie in einem anderen Aggregatzustand wiederfand. Er spürte, wie ihm die Sinne schwanden und er sich auf sein Gedächtnis nicht mehr verlassen konnte. Er war in eine Daseinsebene geglitten, in der ihm alles menschliche Leben ebenso unwirklich vorkam wie der unfaßliche Gedanke, sterben zu müssen, wirklich wurde, der vorüberhuschte, ohne Spuren zu hinterlassen. Der Puls rauschte in seinen Ohren, und zwischen den Schulterblättern spürte er einen messerscharfen Stich, so daß er Mühe hatte, die Arme zu bewegen. Er hatte Angst, aus dem Rhythmus zu geraten. Doch da hatte Cosmo schon längst den Schalter gedrückt. Eine mächtige Welle hatte ihn gepackt, in der es keine Töne mehr gab, nur Rauschen wie in einer Brandung. Ein so gewaltiger Schmerz war durch seinen Körper gefetzt, er glaubte, sein Brustkorb würde explodieren. Er ließ den Taktstock fallen.
    Während er leblos über dem Pult zusammensackte und von der Brandung mitgerissen wurde, unfähig, dagegen anzuschwimmen, staunte er, daß zwischen Sein und Vergehen die Musik nicht aufhörte zu atmen. Und in der kurzen Schrecksekunde, bevor in der Halle Panik ausbrach und die Rettungsmaßnahmen anliefen, die ihn ins Krankenhaus bringen sollten, sah er sich auf der großen Leinwand: Die Füße ein wenig auswärtsgekehrt, den Oberkörper leicht vorgebeugt, die Arme angewinkelt. Sein Metrum bestimmte das Maß der Zeit, schnitt ihr kontinuierliches Fließen in ein Davor und Danach, in dem das Bewegte überging in Ruhe und das Ruhende in Bewegung. Seine Gesten und Gebärden bestimmten den Kairos, den glücklichen Moment im Augenblick der Entscheidung, der Note für Note ihrer musikalischen Bestimmung zuordnete und nichts anderes entstehen ließ als Schönheit und Harmonie. Ein befreiender Friede überkam ihn, während er auf eine Trage gehoben und festgeschnallt wurde und er sich selber beim Dirigieren zusehen konnte, während er im Sterben lag.
    Das also war es, darauf war alles hinausgelaufen!
    Auf der Intensivstation gab es kein eigenes Wartezimmer, und Maria durfte sich erst nach inständigen Bitten in einem kleinen Abstellzimmer aufhalten, in dem einige Betten mit abgezogenen Matratzen standen. Bunte Schläuche und Elektrokabel hingen gebündelt von der Decke, und auf einem Nachttisch lag eine aufgeschlagene Bibel. Wie damals nach dem » Unfall« beschlich sie wieder das Gefühl, sie wollten nicht, daß man sich bei ihnen allzu lange aufhielt. Sie mochten keine Zeugen im Grenzbereich von Leben und Tod.
    Durch die Lamellen einer heruntergelassenen Jalousie im Sichtfenster jenseits des Korridors sah sie einen Turm aus Monitoren, die in zuckenden grünen und orangefarbenen Oszillogrammen die Herzstromkurven der Patienten anzeigten, Atem und Sauerstoff regelten, Blutdruck und Herzschlag kontrollierten und wo unzählige Lämpchen vielfarbig aufleuchteten und erloschen.
    Hinter der abgedunkelten Glasfront, in einer der schmalen Einzelkabinen, mußte er liegen. Sie sah die jungen Schwestern hinter der Wand aus Glas lautlos umherhuschen, und plötzlich überfiel sie eine so vernichtende Verlustangst, daß ihr schlecht wurde und sie das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen. Sie setzte sich auf eines der Betten, versuchte mit dem Bauch zu atmen und starrte wie in Selbsthypnose auf den Linoleumfußboden, der so glänzte, daß man sich darin spiegeln konnte. Auf seinem Terrazzomuster waren noch die Wischspuren der Putzfrau zu sehen, feine Strukturen des nachträglich getrockneten Wischwassers, die sie an Sandwellen am Strand erinnerten, bedeckt mit sonnengetrocknetem Seetang, den sie mit

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