Augenblick der Ewigkeit - Roman
ihren nackten Füßen wie unter Zwang zertreten mußte, wenn sie mit Karl am Meer spazierenging. Wellen mit weißen Kronen schwappten darüber, bis ihre Fußabdrücke weggeschwemmt waren und niemand sehen konnte, woher sie gekommen waren. Sie versuchte, sich an den Geschmack der salzigen Luft zu erinnern, an die kleinen Segelboote am Horizont und daran, wie oft sie auf einer Düne gesessen hatten– bis die Übelkeit allmählich nachließ und es ihr wieder besserging.
Hier in dieser keimfreien Station, die man nur durch eine Schleuse betreten konnte, hatte sie schon einmal eine Nacht wie im Vorhof der Hölle verbracht, als Karl mit gebrochenen Beinen und einer schweren Gehirnerschütterung nach seinem » Autounfall« eingeliefert worden war. Und so wie damals nahm sie die Bibel in ihre Hände und betete zu ihrem Kindergott, daß ein Wunder geschehe. » Lieber Gott, laß ihn nicht sterben, mach ihn wieder gesund!« Doch diesmal glaubte sie selbst nicht daran. Es sei eben irgendwann einmal soweit, so hatten sich die Ärzte ausgedrückt. Deshalb wollte sie nicht unbescheiden sein und korrigierte sich. » Lieber Gott, mach, was du willst…«
Ein Fenster an der gegenüberliegenden Wand, das sich nicht öffnen ließ, ging auf die Anfahrt zu der überdachten Notaufnahme hinaus, in der das Blaulicht der Krankenwagen kreiselte. In Nizza hatte sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet. Die ersten Übertragungswagen der lokalen TV-Anstalten trafen auf dem Parkplatz der Uniklinik ein. Satellitenschüsseln wurden ausgerichtet, Kameras und Scheinwerfer in Stellung gebracht und auf die Fassade des Krankenhauses gerichtet, so als müsste der Maestro gleich wie der Papst am Fenster der Intensivstation erscheinen. Maria war in Tränen aufgelöst, so daß sie nur verschwommen wahrnahm, wie Joachim aus dem Taxi stieg.
Als der Maestro zusammengebrochen war, hatte sie sofort das Kommando übernommen, Johanna und Gudrun zum Flughafen geschickt, um Joachim abzuholen, und Cosmo gebeten, Krausnik zu verständigen, während sie im Krankenwagen Karl begleitete, der unter Sirenengeheul in die Uniklinik gebracht wurde. Erst als sie die Notaufnahme erreicht hatten, war das Konzert im Lincoln Center unter dem frenetischen Beifall des New Yorker Publikums zu Ende gegangen.
» Ich bin so froh, daß du gekommen bist.« Sie hatten sich stumm umarmt, als Joachim von einer der Schwestern in das Zimmer geführt worden war. Gudrun und Johanna mußten vorerst draußen warten.
» Bin ich zu spät?«
Maria wischte sich die Tränen fort und schüttelte den Kopf. In abgerissenem Flüsterton erzählte sie ihm, was der Arzt gesagt hatte:Es sei ein transmuraler Infarkt gewesen.
» Transmural?«
» Durch die Herzwand hindurch. Selbst wenn er wie durch ein Wunder das Trauma überlebt, für ein lebendiges Herz gibt es noch keinen Ersatz. Er meinte, irgendwann sei es soweit.«
» Mein Gott, Maria, und wir haben uns so viel zu sagen. Wann können wir zu ihm?«
» Sowie er zu sich kommt, werden sie uns zu ihm lassen.« Sie schluchzte auf und mußte sich setzen, überwältigt von einer erneuten Woge des Leids. Joachim wollte alles wissen, war aber zu betroffen von dem schmerzvollen Ausdruck ihres Gesichts, als daß er noch irgendwelche Fragen stellen konnte.
» Sei nicht traurig, sei nicht traurig, Maria. Es wird alles gut. Schau, was ich ihm mitgebracht habe.«
Er stellte seine Reisetasche auf den Plastiktisch und holte, um sie aufzumuntern, die Mozart-Puppe aus dem Schuhkarton. Wie ein geschickter Puppenspieler ließ er sie an ihren Fäden auf dem Linoleumboden auf und ab marschieren, auf ihrem schuhlosen Holzbein hinkte sie sogar ein wenig. Vor Maria blieb der kleine Mozart stehen, um ihr artig seine Aufwartung zu machen. » Ma’am, habt Ihr denn meinen Schnallenschuh gefunden?«
Maria schüttelte den Kopf und mußte durch ihre Tränen hindurch lächeln. Die Puppe, die mit ihrer gepuderten Perücke ein wenig zerzaust aussah, begann sich zu drehen und schwebte schwerelos durch das trostlose Zimmer zu den Klängen des Hochzeitsmarsches aus dem Figaro, den Joachim dazu intonierte. Angelockt von den ungewohnten Tönen, reckten die jungen Schwestern ihre Hälse und schauten zur Tür herein.
Selbst der junge Stationsarzt– warum müssen alle auf einer Intensivstation so jung sein, wunderte sich Maria– hatte erst dem Puppenspiel eine Weile zugeschaut, bevor sie sich bemerkbar machte. » Sie können jetzt zu ihm.«
Maria straffte ihren Körper, warf
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