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August

August

Titel: August Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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gewisse Weise ansah, die ihm sagte, daß sie ihn durchschaute. Ihm fällt ein, wie sie ihn ein
mal mit einer Eigenschaft bedacht hat, das war, als sie ihn fragte, ob sie nicht heiraten wollten. Ich glaube, hatte sie da gesagt, du bist ein anständiger Mensch. Dieser eine Satz hielt die ganzen Jahre ihrer Ehe vor.
    Einmal hörte er einen seiner Kollegen zu einem anderen über ihn sagen, er sei wohl nicht so besonders helle. Das berührte ihn nicht. Übrigens wußte er es ja von sich. Die Lilo hatte es ihm gesagt: August, du bist kein Schulmensch, nachdem sie die ersten Schulstunden miteinander verbracht hatten. Das Dorf, zu dem das Schloß gehörte, hatte nämlich, da es selbst wegen der Masse der Flüchtlinge keine Räume frei hatte, im Schloß ein Schulzimmer eingerichtet, in dem der junge, flüchtig ausgebildete Lehrer die Kinder aus dem Dorf und die aus der Mottenburg unterrichten konnte. Der Lehrer hieß Herr Bauer, und er sah eigentlich selbst noch wie ein Schüler aus, fand August, der eine Sympathie für diesen jungen Lehrer empfand. Leider schien auch die Lilo diese Sympathie zu fühlen, jedenfalls blieb sie fast immer in den Schulstunden dabei und half dem Herrn Bauer, wenn es nötig war, beim Unterrichten. August hörte, wie sie den Lehrer mit seinem Vornamen anredete, Rainer, und das gefiel ihm gar nicht. Wann hatte die Lilo diesen Vornamen erfahren? Und redete der Lehrer die Lilo etwa auch mit ihrem Vornamen an?
    Übrigens mußte August zugeben, daß die Hilfe der Lilo in den Schulstunden oft wirklich gebraucht wurde. Die meisten Kinder kamen aus Flüchtlingsfamilien und hatten lange keine Schule von innen gesehen. Vollkommen verwahrlost, nannte die Oberschwester sie, wenn sie mit ungezügeltem Lärm die Schloßtreppe hoch- oder runter
tobten und wenn sie von der Terrasse im ersten Stock, hinter der ihr Schulzimmer lag, zu nassen Bällen geformte Seiten aus ihren Heften hinunterwarfen. Wie schwer es war, überhaupt ein Schulheft aufzutreiben, das interessierte sie nicht. Das sind doch Wilde, sagte die Oberschwester, da ist doch Hopfen und Malz verloren. Natürlich beteiligte sich August nicht an diesen Ausschreitungen. Auch Klaus und Anneliese, die anderen Kinder aus der Mottenburg, hielten sich zurück, aber Ede konnte bei jeder Gelegenheit völlig außer sich geraten, so daß Herr Bauer und die Lilo es kaum schafften, ihn zu zähmen. Daß er zu den schwächsten unter allen den sehr schwachen Schülern gehörte, verstand sich von selbst. Aber während August schwieg, wenn er aufgerufen wurde, und keine Antwort wußte, dachte Ede sich freche Antworten aus, auf denen er trotzig bestand. Eines Tages gab Herr Bauer seinen Schülern die Hefte mit den Diktaten zurück, die sie ein paar Tage vorher geschrieben hatten. Er nannte die Ergebnisse »überaus traurig«, und er schien selbst traurig zu sein über diese Ergebnisse. Auf Augusts Blatt war fast nur noch rote Tinte zu sehen, und die Lilo zuckte resigniert die Achseln, als sie es ihm gab. Die Wahrheit war, daß er fast keines der einfachen Wörter richtig geschrieben hatte und daß die Fünf als Note unter dem Ganzen leider berechtigt war. Dem Ede aber hatte Herr Bauer eine Sechs unter seine Arbeit schreiben müssen, und als der das sah, brach er in ein Wutgeheul aus, griff sein Heft und rannte hinaus auf die Terrasse, wo er sich auf die niedrige Steinmauer schwang und drohte, hinunterzuspringen. Plötzlich war es ganz still in der Klasse, man hörte nur Klaus sagen: Der macht das.
    August sah, daß Herr Bauer ganz blaß geworden war und daß die Lilo zur Terrassentür lief, und er hörte, wie sie Ede anrief. Eine Note in einer Arbeit sei doch nicht so wichtig, daß er deshalb aus dem Fenster springen müsse. Ede schrie zurück, immer sei er der Schlechteste von allen, keiner könne ihn leiden, jetzt habe er die Nase voll. Ich springe! schrie er drohend. August sah, wie die Lilo sich dem Ede mit ganz kleinen Schritten näherte und dabei auf ihn einsprach, in jenem Ton, den August an ihr so liebte. Ob er nicht glaube, daß sie ihn leiden könne. Und ob er sich nicht vorstellen könne, wie traurig sie sein würde, wenn er da jetzt hinunterspränge. Und wieviel Schönes sie noch zusammen machen könnten.
    Ede schien ihr zuzuhören, aber um das zu vertuschen, schrie er immer dazwischen: Ich springe!, und er warf in weitem Bogen sein Diktatheft hinunter. Macht nichts, sagte die Lilo sanft, ich geb dir ein neues Heft mit lauter richtigen Wörtern. – Ich

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