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August

August

Titel: August Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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springe! –
    Ich weiß, daß du das willst, sagte die Lilo, aber wenn ich dich bitte, könntest du nicht mir zuliebe bei uns bleiben? Dabei war sie ganz nahe an Ede herangekommen, so nahe, daß sie mit einem Schritt bei ihm war und ihn in einer Umarmung von der Balustrade herunterziehen konnte. Ein kleines Weilchen blieben sie in dieser Umarmung, dann legte die Lilo dem Ede den Arm um die Schulter und führte ihn in die Klasse zurück, zu seinem Platz. August sah, wie sie dem Herrn Bauer ein Zeichen machte, er solle jetzt nichts weiter sagen, und wie der verstand und den Unterricht fortsetzte, als sei nichts gewesen. Und wie ruhig die Klasse für den Rest der Stunde war.
    Seit sie in die Stadt eingefahren sind, wird es draußen im
mer düsterer, August muß das Licht einschalten, und auf der Gegenfahrbahn kommen ihm lange Schlangen von Doppellichtern entgegen. Neuerdings wird er um diese Zeit müde, er bittet Frau Richter, ihm etwas Kaffee aus seiner Thermosflasche in den Becher zu gießen, und trinkt, es tut ihm gut. Sie fahren schon am gründlich sanierten Ostbahnhof vorbei. Ein paar Worte wechselt er mit Frau Richter, über ihre Fahrgäste, über die sie sich nicht beklagen können, über das Wetter. Vielleicht würde es heute noch Schnee geben. Damit mußte man halt rechnen im November. Sie rechnen immer mit allem, sagt Frau Richter, die August ganz gut kennt. Er wiederum weiß von dem schwierigen Verhältnis zu ihrem ungetreuen Partner, den sie gleichwohl liebt. Das versteht August nicht, aber er fällt kein Urteil und hört aufmerksam zu, wenn Frau Richter sich wieder einmal aussprechen muß. Sie habe keinen, der so gut zuhören könne wie er.
    Ein Held im Schriftlichen ist er nie geworden, obwohl die Lilo mit ihm und Ede nachmittags Rechtschreibung übte. Einerseits freute er sich auf die Stunden, in denen die Lilo sich ihm zuwandte, andererseits störte es ihn, daß Ede dabei war. Der hatte keine Lust zum Lernen und kam kaum weiter, während er, August, doch bescheidene Fortschritte machte, so daß er später, in der richtigen Schule, sich beim Diktat auf einer Vier halten konnte. Lesen aber konnte er gut, dafür hat die Lilo ihn oft gelobt. Freilich konnte er sich nicht mit Klaus und Anneliese vergleichen, die waren blond und blauäugig und lebhaft und gut zu leiden, die kriegten gute Zensuren bei Herrn Bauer, und die hatten ja auch ihre Mutter bei sich, die lag im kleinen Frauensaal, und die Kinder waren doch eigent
lich nur wegen dieser Mutter hier und weil man nicht wußte, wohin man sie sonst hätte bringen sollen. Das hörte August die Oberschwester zur Lilo sagen, die zu wissen schien, warum die Mutter von Klaus und Anneliese im kleinen Frauensaal lag, wo doch sonst nur die schwereren Fälle lagen. Ach was, sagte die Oberschwester, so genau könne man das nicht sortieren, bei dem Bettenmangel. Der Mutter von Klaus und Anneliese einen Pneumothorax zu legen, hatte der alte Arzt aus Boltenhagen allerdings abgelehnt.
    August erinnert sich, daß in ihrer Ehe alles, was an Schriftlichem anfiel, immer die Trude übernommen hatte. Wenn ich mal vor dir sterbe, hatte sie manchmal gesagt, mußt du dich entmündigen lassen. Mit großer Mühe muß er sich nun durch den geringen Schriftverkehr kämpfen, der bei ihm anfällt. Zum Glück hat er einen Nachbarn, der bei einem Jobcenter arbeitet und der einspringt, wenn bei ihm Not am Mann ist. Überhaupt ist er immer auf hilfsbereite Menschen gestoßen, wenn er sie brauchte, denkt August. Aber die Liste seiner Freunde, die er sich jetzt im Kopf aufsagt, ist nicht lang. Die Bierabende, bei denen die Kollegen sich trafen, hat er gemieden, bei den gemeinschaftlichen Ausflügen haben sie manchmal mitgemacht, Trude und er. Da sind sie einmal auf der Donau von Wien nach Passau gefahren, die Einrichtung des Schiffes hat er sehr bewundert.
    Jetzt fallen doch tatsächlich die ersten Schneeflocken, der Wind treibt sie an den Fenstern vorbei. Die Fahrgäste hinten im Bus finden, damit hätte Petrus doch wenigstens noch warten können, bis sie zu Hause gewesen wären. Sehr schnell verdichtet sich das Schneetreiben, August muß
die Scheibenwischer auf Schnellgang stellen, sonst würden sie den Ansturm nicht schaffen. Aber es handelt sich ja jetzt nur noch um wenige hundert Meter Fahrt.
    Vor dem Reisebüro am Alexanderplatz ist die Endhaltestelle. Im Schneetreiben müssen die Passagiere aussteigen. August hilft den Gehbehinderten mit dem Gepäck. Das Trinkgeld, das manche ihm

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