August
der Mottenburg gab es eine Mutprobe: In der ersten Nacht, in der eine frische Leiche in der Kapelle lag, hatten die Mutigsten sich zur Geisterstunde in die Kapelle zu schleichen und den Sarg mit der Hand zu berühren. Mindestens ein Zeuge mußte dabeisein, und am nächsten Tag brüstete sich der Wagemutige mit seiner Heldentat. Harry nun, dem immer daran gelegen war, sich vor den anderen hervorzutun, ließ seine engsten Freunde und auch die Lilo wissen, daß er es sein werde, der in der kommenden Nacht Gabis Sarg berühren werde. Die Lilo verbot ihm das in den zornigsten Worten. Er aber, Harry, konnte sich vor seinen Freunden nicht mehr blamieren und tat, was er angekündigt hatte, vor Zeugen. Die sorgten dafür, daß am nächsten Tag alle Patienten der Mottenburg davon erfuhren. Die Lilo soll kein Wort gesagt haben, aber sie hat mit Harry nicht mehr geredet und ist erst recht nicht mehr mit ihm spazierengegangen. Das war für sie eine Entweihung der Totenruhe, sagte Herr Grigoleit. Und den Harry nannte er kaltschnäuzig.
August durchquert nun mit seinem Bus die Randbezirke von Berlin, wo der Verkehr dicht und unübersichtlich
wird. Dies ist etwas für Jüngere, denkt er jedesmal, jetzt muß er sich stark konzentrieren, obwohl er allmählich etwas müde wird. Matschwetter, denkt er, grau in grau. Typisch Berlin. Aber das ist nicht wirklich ernst gemeint, er und Trude hatten nie in einer anderen Stadt wohnen wollen als in Berlin. Obwohl er doch, jedenfalls nach Trudes Meinung, eigentlich ein Bauer sei, der aufs Land gehöre. Das hörte er nicht ungern, und ihm fällt ein, daß die Lilo ihn auch einmal »mein Bäuerlein« genannt hat. Das war, als er ihr ein paar Kartoffeln brachte, die er auf einem Nachbarfeld gestoppelt hatte und die sie sich eines Abends, als die Küchenfrauen gegangen waren, heimlich in der Küche kochten und aßen. Das war vielleicht das Schönste, was August mit der Lilo erlebt hat. Dafür gab sie ihm manchmal etwas von dem Rübensirup ab, den ihr Vater, der gerade erst aus der Kriegsgefangenschaft gekommen war und seine Familie in der Scheune eines mecklenburgischen Dorfes aufgestöbert hatte, ihr eines Tages in einem Eimerchen gebracht hatte. Die Lilo wußte und erzählte es August, wie der Sirup nach stundenlangem Rühren in der Waschküche der Bauersleute hergestellt wurde, bei denen die Familie der Lilo nach ihrer Flucht aus dem Osten untergekommen war. Jeden Nachmittag aß sie eine Tasse von dem Sirup. Jetzt nimmt sie endlich zu, sagte die Oberschwester. Dieses süße Zeug kann ihr das Leben retten.
Das Hannelörchen aber starb, ausgerechnet zu Weihnachten. Die Lilo hatte sie in ihrer letzten Zeit besucht, egal, was die Oberschwester dazu sagte. Die sagte, manche Menschen hätten ja vielleicht einen Schutzengel, und August war überzeugt, daß die Lilo zu diesen Menschen ge
hörte. Als der kleine Sarg mit dem Hannelörchen rausgetragen wurde, versammelten sich die Patienten, die aufstehen durften, in der Halle und sangen »Vom Himmel hoch, da komm ich her«. Und Herr Grigoleit sagte: Was der Herr liebt, das nimmt er zu sich. Da fuhr die Lilo ihn an: Der Herr sei kein Räuber. Ob jemand es gewagt hatte, sich zur Mitternacht in die Kapelle zu schleichen, um Hannelörchens Sarg zu berühren, wurde nicht berichtet. Aber noch heute ist August überzeugt, daß unter den Patienten keiner so kaltschnäuzig gewesen wäre, diese kleine Tote zu beleidigen.
August erinnert sich, daß am Abend, als das Hannelörchen gestorben war, die Lilo den Kindern kein Lied zur Guten Nacht sang. Stumm saß sie wie immer auf seinem Bett, und er fragte sie, leise, daß die anderen es nicht hörten: Bist du traurig?, und die Lilo sagte leise: Ja. Und August spürte, und er spürt es bis heute, daß er der Lilo niemals näher kommen würde als in dieser Minute, und er lernte, daß Trauer und Glück miteinander vermischt sein können. Er überlegt, während er in Richtung Alexanderplatz fährt, ob er in seinem späteren Leben noch ein Beispiel für diese Lehre erfuhr. Es fällt ihm keines ein. Vielleicht hat er das Wichtigste für sein ganzes Leben so früh gelernt, mit Hilfe einer Person, für die er etwas empfand, für das er keine Worte wußte. Auch heute, so viele Jahre später, würde er das Wort dafür nicht aussprechen, nicht einmal in Gedanken. Er würde auch nicht darauf kommen, sich »scheu« zu nennen, über sich selbst nachzudenken ist ihm nie eingefallen. Es genügte ihm, daß Trude ihn manchmal auf eine
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