Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
was?«
»Medusa Barbie verlässt Ken für Rei, weil er so einen Waschbrettbauch hat.«
»Hey, ich auch!« Um das zu beweisen, nimmt er eine Muskelmann-Pose ein und spannt seine Muskeln einen nach dem anderen an.
Saya kriegt sich vor Lachen kaum mehr ein.
»Mach dir keine Sorgen, Seth.« Rei steht auf und tätschelt seine Schulter. »Ich bin mir sicher, Medusa Barbie hat auch noch eine Freundin für dich.«
Jetzt läuft Saya von mir zu Rei und zupft ihn am Ärmel. »Los, mach es. Mach es!«
»Vorsicht, ich bin total verschwitzt.«
»Aber ich will, dass du auch deine Mukkis rauf und runter gehen lässt!« Ich breche in Lachen aus. »Na los, Rei«, schaffe ich zwischen Lachsalven hervorzupressen. »Kannst du auch deine Mukkis rauf und runter gehen lassen?«
Er hält inne und grinst mir zu. »Die Frage ist nicht, ob ich
kann
, die Frage ist, ob ich
will
. Und die Antwort ist: Nein!«
4
Die Entfernung von Reis Haus zu meinem kommt mir viel weiter vor als die Entfernung von meinem Haus zu Rei. Es ist sieben Uhr abends und noch hell. Ich schlendere langsam nach Hause. Während sich Rei geduscht und umgezogen hat, bin ich noch bei Saya geblieben. Reis Eltern sind kurz danach aus ihrem Laden nach Hause gekommen. Yumi hat mich zum Abendessen eingeladen, aber es gab etwas mit Tofu – nicht gerade mein Lieblingsessen.
Außerdem habe ich ein Date mit einer Dosensuppe.
Die Haustür quietscht leicht, als ich sie öffne. Bevor ich ihn sehen kann, rieche ich ihn: der beißende Geruch von abgestandenem Alkohol, vermischt mit Schweiß, der aus jeder Pore seines Körpers dringt und die Luft in meinem Haus verpestet. Ich versuche, nicht zu tief einzuatmen. Er liegt in seinen alten, fleckigen Boxershorts und einem T-Shirt in seiner üblichen Pose auf dem schäbigen Liegesessel. Die Flasche neben ihm ist bereits halb leer. Obwohl ich seine Aura gerade nicht sehen kann, weiß ich, dass er in einer Dunstwolke aus trübem Grau sitzt.
Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er gehört oder gesehen hat, dass ich hereingekommen bin. Seine Aufmerksamkeit gilt allein dem Fernseher. Ich schleiche unbemerkt an ihm vorbei in die Küche und suche im Küchenschrank nach einer Dosensuppe. Ich würde am liebsten die Hühnchensuppe mit Nudelnessen, aber da sind zu viele Brocken für ihn drin. Ich entscheide mich für Hühnchencremesuppe und schütte den Inhalt in einen Mikrowellenbehälter.
Er sieht mich nicht einmal an, als die Mikrowelle zu summen beginnt, aber der Ping am Ende weckt seine Aufmerksamkeit. Das Gesicht, das sich mir zuwendet, ist fleckig und aufgedunsen. Er versucht mich mit seinen rot geränderten Augen zu fokussieren. »Für mich?« Seine Stimme ist rau. Das sind wahrscheinlich die ersten Worte, die er heute gesagt hat.
»Ja.«
Er dreht sich zum Fernseher und greift nach seinem Glas. »Hab keinen Hunger.«
Das ist absolut keine Überraschung.
»Ich lasse die Suppe hier stehen, falls du Hunger bekommst.«
Keine Antwort.
Nachdem ich die Hälfte der Suppe in eine Schüssel geschüttet habe, nehme ich eine Dose Limo, ein paar Kräcker und einen Löffel und verschwinde in mein Zimmer. Die Tür sperre ich ab. Frische Luft! Wenn ich Glück habe, muss ich nur einmal ins Badezimmer, bevor ich schlafen gehe.
Meine Mum hat mir erzählt, dass mein Vater nicht immer so war. In meinem Bücherregal, zwischen der Schachtel mit meinen Ersparnissen und einem Stapel mit Reisebroschüren aus dem Internet, steht ein Fotoalbum. Zwischen den Bildern von mir mit Rei und seiner Familie ist ein Bild von einem schönen, jungen Mann mit lachenden blauen Augen, gelocktem blondem Haar und der tiefen Bräune eines Bauarbeiters. Der Mann ist schlank und hat mich als Baby auf den Schultern. Das war einmal mein Vater.
Glaubt man meiner Mutter, dann war er süß und lustig und ein großartiger Küsser. Zu viel Information. Sie hat ihn kennengelernt, als sie gerade als Immobilienmaklerin angefangen hatte. Er arbeitete auf einem der Bauobjekte, die sie verkaufen sollte. Kurz darauf heirateten sie, zogen in dieses kleine renovierungsbedürftige Haus und bekamen mich.
Vier Jahre später brach ein Gerüst zusammen und mein Vater fiel mehr als sechs Meter tief und landete flach auf dem Rücken. Ich war damals zu klein, um mich zu erinnern. Ich weiß nur noch, dass meine Mutter oft versuchte, mein Schreien zu stoppen. Denn wenn ich schrie, fing er an zu brüllen: »Bring das Kind zum Schweigen!« Die Ärzte waren sich nicht sicher, ob er je wieder laufen
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