Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)

können würde, aber er überraschte sie alle. Mittlerweile schafft er es vom Bett zur Toilette, von da zum Schnapsschrank und bis zu seinem Sessel, bevor er betrunken ist.
    Solange ich ihn nicht provoziere, ist er ziemlich ruhig. Manchmal packt er meinen Arm und bemerkt nicht, wie fest er zudrückt. Aber geschlagen hat er mich erst ein einziges Mal. Damals war ich 13 und war in einer Algebra-Klasse, die viel zu schwierig für mich war. Ich war in meinem Zimmer und lernte für einen Test und er war im Wohnzimmer. Er rief nach mir und wollte, dass ich ihm eine Flasche aus der Garage hole. Ich war so dumm, ihn zu ignorieren. Aber er brüllte immer lauter, bis ich aus meinem Zimmer gerannt kam. Ich hätte es wissen sollen und ihn besser nicht angeschrien – besonders weil meine Mutter nicht da war. Ich habe es nicht kommen sehen. Plötzlich schlug er mir so fest ins Gesicht, dass ich fiel und mit der Stirn an die Kante der Küchenarbeitsplatte prallte.
    Ich wusste, dass Weinen ihn nur noch wütender machen würde. Deshalb rannte ich so schnell ich konnte durch die Vordertür und den Weg runter zu … wohin sonst? Ich hatte nicht einmal Schuhe dabei. Ich wusste nicht, wie sehr ich blutete, bis ich bei Reis Haus ankam und den Ausdruck auf seinem Gesicht sah. Auf der Fahrt ins Krankenhaus mussten wir eine Küchenrolle und eine Mülltüte mitnehmen. Nur weil ich den Arzt angelogen habe und der Bluterguss auf meiner Wange noch nicht so deutlich erkennbar war, meldete damals keiner den Vorfall an das Jugendamt.
    Yumi hat damals sehr lange mit meiner Mutter gesprochen, und meine Mutter beteuerte mir, dass mein Vater hoch und heilig geschworen habe, mich nie wieder zu schlagen. Zu stark zuzupacken ist nicht das Gleiche wie schlagen – zumindest versuche ich das Rei immer wieder zu erklären. Wenn ich die blauen Flecken an meinem Arm dem Schulpsychologen zeigen würde, müsste ich wahrscheinlich zu seiner Sprechstunde direkt nach Seth gehen und würde im schlimmsten Fall in einer Pflegefamilie enden. Auf jeden Fall würde nichts Gutes dabei herauskommen. Ich kann damit umgehen, wenn ich zu fest angepackt werde. Ich kann meine blauen Flecken unter langen Ärmeln verstecken und in einem Jahr habe ich ohnehin meinen Abschluss.
    Wenn Rei aufs College geht, habe ich keine Ahnung, was ich machen soll. Ich würde auch gerne aufs College gehen, aber das ist teuer, und ich weiß nicht einmal, was ich studieren soll. Wahrscheinlich werde ich ein Jahr Pause machen, mir einen Job und eine WG suchen und ein bisschen Geld für die Studiengebühren sparen. Wenn es eine Sache gibt, die ich an meinerMutter bewundere, dann ist es die Tatsache, dass sie von keinem Mann abhängig ist.
    Ich puste auf meine Suppe, während ich darauf warte, dass mein Computer startet. Ich will nicht ungerecht sein. Meine Mutter tut wirklich alles, damit ich alles Notwendige bekomme … einen Computer mit einem schnellen Internetzugang, ein Handy und einen iPod. Sobald ich mich eingeloggt habe, piepst mein Computer.
    StringRei: ohai
    Auracle: ohai
    StringRei: hast du ihm suppe gemacht?
    Auracle: hühnercremesuppe
    StringRei: hat er sie gegessen?
    Auracle: was glaubst du?
    StringRei: ich denke, dass saya möchte, dass auracle heute in ihrer schlafkoje übernachtet
    Auracle: sag saya, dass ich sie liebe und alles in ordnung ist
    StringRei: hast du dich heute wieder an der spülmaschine gestoßen?
    Auracle: nein, aber es ist noch früh am abend
    StringRei: wie geht‘s deinen hausaufgaben?
    Auracle: ich habe gerade mein chemiebuch angezündet. hast du ein paar marshmallows für mich?
    StringRei: haha brauchst du hilfe?
    Das entscheidende Wort ist »brauchen«. Und ja, ich brauche wirklich Hilfe. Rei bespricht mit mir ein paar Chemieaufgaben. Ich muss irgendetwas berechnen, das mit einer Lösungzu tun hat, die dadurch entstanden ist, dass etwas aufgelöst wurde und sich in etwas anderes verwandelt hat. Irgendwann gebe ich auf. Ich fühle mich, als würde mein Kopf gleich explodieren.
    Danach reden wir über dies und das, während ich im Internet nach Orten suche, die ich später noch besuchen könnte: Great Barrier Reef, Madagaskar oder hmmm … Ich frage mich, ob dieses riesige Eisschloss in Schweden schon geschmolzen ist. Rei weiß, dass ich immer noch mithilfe astraler Projektion auf Entdeckungstour gehe, aber ich erzähle ihm nichts von meinen Plänen. Schließlich will ich nicht, dass er mich für eine Angeberin hält.
    Gegen halb elf höre ich, wie mein Vater ins