Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
Badezimmer stolpert und sich übergibt. Ich höre, wie er würgt, stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren und drehe so laut auf, wie ich es ohne Hörschaden ertragen kann.
StringRei: ich arbeite an einem neuen lied.
Auracle: cool. akustisch oder elektronisch?
StringRei: akustisch
Auracle: schön! was für ein song wird es?
StringRei: das ist eine überraschung.
Auracle: und du weißt ja ganz genau, wie gerne ich überraschungen mag.
StringRei: :)
Auracle: kannst du mich morgen früh anrufen und aufwecken? ^o^
StringRei: klar. putz dir die zähne, bevor du auf reisen gehst.
Auracle: k, warte kurz
Mein Vater sitzt im Wohnzimmer in genau der gleichen Position wie vorher. Die Suppe steht unberührt auf dem Küchentisch. Darum kümmere ich mich morgen. Im Badezimmer kann ich erst aufs Klo gehen, nachdem ich die blutgesprenkelte Gallenflüssigkeit vom Toilettensitz gewischt habe. Ich benutze ein frisches Papiertuch, um die Spritzer vom Boden und der Wand zu wischen. Danach wasche ich meine Hände mit so heißem Wasser, dass ich es gerade so noch ertragen kann, und putze mir die Zähne. Dann gehe ich auf Zehenspitzen zurück in mein Zimmer, schließe die Tür und schiebe leise die Lehne von meinem Stuhl unter den Türgriff.
Auracle: danke fürs warten. mein stuhl versperrt jetzt die tür.
StringRei: warum hast du so lange gebraucht?
Auracle: ich musste väterliche kotze vom toilettensitz, der wand und vom boden wischen
StringRei: >o<
Auracle: haha
StringRei: mein handy ist die ganze nacht an. ruf an, wenn du was brauchst.
Auracle: danke. wird schon ok sein.
StringRei: bis morgen.
Auracle: k tschüs
StringRei hat den Chat um 23:45 verlassen.
Ich melde mich ab und fahre meinen Computer herunter. Aus dem Wohnzimmer höre ich das Geräusch des Fernsehers. Er bleibt normalerweise die halbe Nacht angeschaltet. Gegen vier Uhr früh wird mein Vater sich wahrscheinlich noch einmalübergeben, ins Bett wanken und dann bis mittags schlafen. Dann steht er auf und holt sich zum Frühstück eine neue Flasche.
In der sechsten Klasse kam ein Polizist zu uns in die Schule und erzählte uns von den Gefahren von Drogen und Alkohol. Damals habe ich begriffen, dass mein Vater ein Alkoholiker ist.
Als ich diese Erkenntnis meiner Mutter mitteilte, verteidigte sie ihn sofort. »Es ist nicht sein Fehler«, sagte sie. »Er ist krank.«
Wenn ich mir kranke Menschen vorstelle, dann denke ich an Grippe, eine Halsentzündung oder Krebs, aber nicht an Alkoholismus.
»Das ist Unsinn!«, habe ich meiner Mutter eines Tages gesagt, als ich einen besonders großen blauen Fleck an meinem Oberarm verstecken musste. »Er ist nicht krank. Er hat eine Wahl. Er entscheidet sich für das Trinken und gegen uns.«
»Alkoholismus ist eine Krankheit, Schatz; er kann nichts dagegen tun. Sein Vater war auch ein Alkoholiker.«
»Willst du mir sagen, das ist genetisch? Muss ich mich darauf vorbereiten, auch so zu enden?«
»Ich bin mir sicher, dir wird das nicht passieren.«
»Ganz sicher bist du dir aber nicht, oder?«
»Vor seinem Unfall ging es deinem Vater gut. Aber danach bekam er große Schmerzen und der Arzt wollte ihm nicht mehr Medikamente geben. Wenn sie ihm geholfen hätten, mit seinen Schmerzen besser umzugehen, hätte er sich nicht selbst betäuben müssen.«
Ich weiß, dass sie ihn noch liebt. Ich verstehe das. Ich weiß, dass sie auch mich liebt. Ich verstehe nur nicht, warum sie immer Ausreden suchen muss, anstatt das Problem zu lösen.
»Dann hör auf, Alkohol für ihn zu
kaufen
!«, sagte ich ihr. »Dann
muss
er mit dem Trinken aufhören oder rausgehen und ihn sich selber kaufen!« Das erschien mir ein logischer und simpler Plan. Wenn sie aufhört, den Alkohol zu kaufen, hört er auf zu trinken und am nächsten Morgen wachen wir auf und sind eine heile Familie.
»Anna, mein Schatz, so einfach ist das nicht. Es gibt Entzugserscheinungen. Sie können ziemlich unangenehm werden.«
Unangenehm. Also das wollen wir wirklich nicht riskieren, oder?
Ich liege im Bett und frage mich, welchen neuen Song Rei auf seiner Gitarre lernt und ob er jetzt gerade wohl ein T-Shirt anhat oder …
Hallo, Anna
, unterbricht mich mein Gewissen.
Du denkst gerade an Rei, deinen Nachbarn und deinen besten Freund. Warum fragst du dich, ob er ein T-Shirt trägt? Du willst doch nichts von ihm, oder? Also wirklich! Wie würdest du dich denn fühlen, wenn er was von dir wollen würde?
Na ja, ich würde mich irgendwie geschmeichelt
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