Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
macht das ständig. Aber einen 15 Zentimeter tiefen Messerstich zu heilen, das ist schon etwas anderes. Zu was bin ich sonst noch in der Lage? Kann ich die alkoholisierte Leber meines Vaters heilen? Gebrochene Knochen wieder ganz machen? Ein Kind von Krebs heilen? Ist diese Fähigkeit ein Geschenk oder ein Fluch? Ich weiß es nicht. »Wir sollten besser niemandem davon erzählen«, sage ich ihm.
»Ganz deiner Meinung.«
Ich lasse warmes Wasser über ein Geschirrtuch laufen. »Soll ich das Blut von deinem Rücken waschen?«
»Danke«.
Sogar Reis Rücken ist unglaublich muskulös. Ich versuche, mich von dem Anblick nicht ablenken zu lassen und nur an die medizinischen Aspekte zu denken. Ich muss das Geschirrtuch ein paar Mal auswaschen, bis ich am Bund seiner Jeans ankomme. Auch der ist blutverschmiert. »Wie fühlst du dich?«
»Ein bisschen schwach«, gibt er zu. »Wo ist Taylor?«
Ich sehe mich in der Küche um: blutverschmierte Wände, verteilter Müll, Blut, Geschirr und Besteck auf dem Boden, noch mehr Blut, zerbrochenes Glas und … noch mehr Blut. Aber keine Taylor.
»Ich weiß nicht, wo sie hin ist.«
»Das Ganze ist vollkommen außer Kontrolle geraten, Anna. Wir müssen sie finden und etwas tun.«
»Ich weiß. Das machen wir. Aber wir müssen aufräumen, bevor deine Mum nach Hause kommt. Außerdem kann ich besser nachdenken, wenn ich aufräume. Du solltest dich hinsetzen.«
»Ich helfe dir«, bietet Rei heldenhaft an.
»Das machst du nicht. Du setzt dich hin und trinkst so viel du kannst, bevor der Blutverlust bei dir einen Schock auslöst.«
»Wow.« Rei grinst mich an und setzt sich hin. »Zu Befehl.«
Rei nippt an einem Saft und sieht mir zu. Ich muss mit Adrenalin vollgepumpt sein, denn ich bin in Null Komma nichts damit fertig, aufzuräumen und das Blut vom Boden zu wischen. Dann schaue ich mich um. »Habe ich was übersehen?«
Rei schüttelt den Kopf. »Gute Arbeit. Das Einzige, was noch in Unordnung ist, bin ich.«
Er ist immer noch blass, und obwohl ich das meiste Blut von ihm abgewaschen habe, weiß ich, was er will.
»Fühlst du dich stark genug, um zu duschen?«
»Mir geht es gut. Ich habe nur Angst, dich alleinzulassen. Was, wenn sie zurückkommt?«
Ich zucke mit den Achseln. »Du duschst ja immer recht schnell.« Ich überlege kurz und sage dann: »Vielleicht solltest du nicht absperren. Nicht, dass du ohnmächtig wirst oder sonst was passiert und ich nichts machen kann.«
Rei lacht. »Und was dann? Kommst du dann rein und rettest mich?«
»Na ja, ich könnte zumindest das Wasser abdrehen, damit du nicht ertrinkst.«
Rei sieht amüsiert aus, aber meine Argumente haben ihn anscheinend nicht überzeugt. Endlich verstehe ich, worauf er anspielt: Er hat Angst, dass ich ihn in der Dusche beobachte.
»Hey.« Ich stehe und er sitzt, deshalb habe ich zur Abwechslung mal einen Größenvorteil. »Du hast in Jason Trents Auto meine Brüste gesehen. Ich finde, wir sind quitt.«
Es überrascht mich, dass Rei noch genug Blut übrig hat, um rot zu werden.
38
Rei kommt strahlend sauber die Treppe herunter. Aber er wirkt immer noch ein bisschen zittrig. »Wie fühlst du dich?« Ich schenke ihm noch ein Glas Saft ein und er setzt sich hin.
»Okay.« Er trinkt das halbe Glas mit einem einzigen großen Schluck aus. »Aber hundertprozentig fit bin ich immer noch nicht.«
»Sollen wir vielleicht ein bisschen auf der Hollywoodschaukel chillen?«
»Wie wär’s mit der Hängematte? Dann kann ich mich hinlegen.«
Das macht Sinn.
»Ich hole vorher noch mein Handy aus dem Auto. Vielleicht hat Seth ja angerufen.«
»Ich hole es.«
Wir gehen raus, und Rei wartet an der Tür auf mich, während ich zum Auto renne. Das Handy liegt immer noch auf der Konsole. Ende gut, alles gut, aber wenn ich daran denke, dass ich Rei fast verloren hätte, nur weil ich ein bisschen angeben wollte, wird mir fast schlecht.
»Hier.« Ich gebe Rei das Telefon.
»Danke. Ich habe eine Nachricht bekommen. Vielleicht ist sie ja von Seth.«
Rei ruft seine Mailbox an, und als wir die Hängematte erreichen, spricht er schon mit Seth. So glücklich habe ich ihnnicht mehr gesehen, seit das ganze Chaos angefangen hat. Ich will ihnen ein bisschen Zeit alleine geben und deute auf die Trauerweide.
»Ich gehe da rüber«, flüstere ich, als Rei die Stirn runzelt. »Du kannst mich von hier aus sehen.«
Er nickt zögernd.
Bäume müssen wohl das geduldigste lebendige Ding auf der ganzen Welt sein. Jahr für Jahr stehen sie
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