Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
es heller Tag ist, wenn es bei uns tiefe Nacht ist. Ich liebe die kraftvolle unkontrollierte Vibration des Meeres. Das ruhige Summen des Sees wirkt beruhigend nach den Anstrengungen der Woche. Sogar die Bäume sind friedlich. Ein schimmerndes Blau umgibt sie.
Die Aussicht ist atemberaubend. Wir sind auf der Spitze, vierundzwanzig Meter über dem Champlain See. Hierher kommen immer Kinder zum Klippen-Springen. Auch Rei und Seth waren letzten Sommer hier – Rei hat mir das erst später erzählt. Man sollte alte Turnschuhe tragen, wenn man springt. Sonst muss man bis zu den Sandstränden schwimmen oder das Risiko eingehen, sich seine Füße an den Muscheln aufzureißen, die auf den Felsen am Ufer wachsen. Rei trägt heute seine guten Wanderstiefel.
Er sitzt am Rand der Klippe und lässt ein Bein herabbaumeln. Außer ein paar Motorbooten auf dem See ist niemand zu sehen. Also materialisiere ich mich und setze mich neben ihn. Schweigend leisten wir uns Gesellschaft. Ab und zu erzählt er etwas: wie die roten Quarzitfelsen ihre Farbe durch Tausende von Jahren Oxidation unter Wasser in der kambrischen Periode bekommen haben und wie er einmal träumte, er sei in einen zugefrorenen See gefallen und habe die Sonne durch das Eis gesehen, während ihm der Sauerstoff ausging.
Er streckt seine Hand nach meiner aus, und als meine Fingerspitzen seine berühren, gesteht er endlich, dass er Angsthat, Taylor könnte für immer meinen Körper behalten. Er sitzt 15 Zentimeter von einem 24 Meter tiefen Abgrund entfernt und fürchtet sich vor Taylor.
Ich wäre gerne geblieben, um zusammen mit Rei den Sonnenuntergang zu sehen, aber er muss seine Eltern und Saya vom Laden abholen. Ich bin vor ihm zurück. Unsere Auszeit ist vorbei. Taylor sitzt auf den Stufen vor ihrem Haus. Sie trägt ein hellblaues Sommerkleid, das ich noch nie zuvor gesehen habe. Ihre Augen sind auf Reis Einfahrt gerichtet.
Sobald Rei parkt und seine Familie ins Haus geht, rennt sie barfuß über den Pfad zwischen unseren Häusern zu ihm herüber. Sie sieht so anders aus als ich. Mit ihren offenen Haaren und nur einem Hauch Make-up wirkt sie wie eine zierliche Elfe, die leichtfüßig über das Gras läuft. Für einen Moment bin ich eifersüchtig, dass sie in meinem Körper besser aussieht als ich. Es muss das Kleid sein.
»Hi Rei.«
»Hey Taylor.« Rei steht an der offenen Hecktür und greift nach seinem Rucksack.
»Du warst heute nicht in der Schule.«
»Nein.« Er schwingt seinen fast leeren Rucksack auf die Schulter und knallt den Kofferraum zu.
»Wo warst du?«
»Wandern.«
»Oh. Du warst den ganzen Tag weg. Bist du erschöpft?«
»Nicht wirklich.«
»Hast du über das nachgedacht, was wir letzte Nacht besprochen haben?«
»Ja, das habe ich«, sagt Rei ernst. »Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht, Taylor.«
Sie kommt näher und stellt sich auf ihre Zehenspitzen, damit sie ihm direkt in die Augen sehen kann. »Und?«
Rei schweigt. Er sieht sie nur mit einem verzerrten Gesichtsausdruck an. Für einen Moment überlege ich, ob ich ihn mit einem Stups aus seiner Erstarrung holen soll. Doch plötzlich lässt er seinen Rucksack fallen, lehnt sich vor und küsst sie.
Das kam unerwartet.
Es ist ein schöner Kuss. Viel besser als der auf der Veranda. Ich sehe die beiden für einen Moment scheu und schockiert an, und dann trifft es mich wie ein Schlag: Eine Welle der Eifersucht packt mich. Das war
seine
Idee. Er
will
sie küssen! Seine Farbe nimmt einen zarten Pink-Ton an. Er ist ein wenig heller als Taylors. Bäh! Ich sollte ihm seine Privatsphäre lassen und gehen, aber ich kann nicht. Ich kann mich einfach nicht losreißen. Es ist, als ob ich das alles indirekt erlebe, und ich stelle mir vor, wie seine Hände sich heben und sanft meinen Nacken berühren anstelle von ihrem, wie seine Finger durch mein Haar fahren und seine Daumen den Punkt umspielen, wo ihr Puls hämmert, und er den Herzschlag zählt, der einst meiner war.
Und dann kommt mir ein anderer Gedanke …
Was war noch einmal der Name des Druckpunkts?
Sie ist vollkommen vertieft in den Kuss, steht auf ihren Zehenspitzen wie eine Ballerina, ihre Hände schieben sich an seinen Armen hoch zu seinen Schultern. Sie atmet so heftig, dass sie den Sauerstoffmangel wahrscheinlich nicht bemerken würde, wenn er …
zudrückt
.
Dreißig Sekunden. So lange sollte es dauern. Ein Teil von mir will, dass er auf diesen weichen, verletzlichen Punkt drückt, bis sie wegen des Sauerstoffmangels
Weitere Kostenlose Bücher