Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)

weißen Oberteil mit Rundausschnitt darunter. Sogar ihre Schuhe sind konservativ. Es sind marineblauePumps mit einem fünf Zentimeter hohen Absatz. Ihre Haare sind offen und verdecken die Piercings in ihren Ohren. Aber selbst, wenn man sie sehen könnte, würde sie das als Zeugin nicht unglaubwürdiger machen. Ich wünschte, ich könnte ihr die Jacke herunterreißen, damit man das Tattoo sehen kann. Nur eine Psychopathin würde sich das Porträt einer Toten auf den Arm tätowieren lassen. Vor allem, wenn sie diese Tote kaum kannte.
    Man hört Schlüssel klappern und Türen quietschen. Zuerst denke ich:
Juhu! Es ist der Richter
, aber dann sehe ich:
Buuuh! Es ist Seth und seine Hand- und Fußgelenke liegen in Ketten
. Zwei Polizisten begleiten ihn, in ihren Halftern stecken große Pistolen. Von Seths Aura ist nur noch eine dünne, traurige, zementfarbene Schicht übrig. Ich mache den Fehler nachzusehen, ob Rei bemerkt hat, dass Seth hereingekommen ist. Natürlich hat er es gesehen. Seth wirft Rei einen kurzen Blick zu und ihr geteiltes Leid vermischt sich und umgibt alles mit einem grauen Schleier. Die beiden bewaffneten Polizisten führen Seth zu einem Tisch, wo sein Anwalt schon auf ihn wartet. Als er sich hingesetzt hat, bleiben die Beamten in seiner Nähe.
    »Alle aufstehen!« Der Gerichtsdiener hört sich an wie ein Beamter aus
Law & Order
.
    Die Menge steht mechanisch auf. Der Richter kommt in seiner festlichen schwarzen Robe herein. Bevor er sich hinsetzt, mache ich auf seinem Stuhl für ihn Platz und schwebe in den hinteren Teil des Raumes. Ich frage mich, ob er mit seiner ständig von seiner Nase rutschenden Brille bis zu mir nach hinten sehen kann.
    Als er gerade eine Rede über die Bedeutung dieses Gerichtsverfahrenshält, beschließe ich, das zu testen. Als ich mich sichtbar mache, sieht es so aus, als würde ich in meiner Sporthose und meinem T-Shirt auf der hintersten Bank stehen und mich gegen die Wand lehnen.
    Er sieht mich. Während seiner Rede streifen seine Augen das Publikum, und als sein Blick zu mir wandert, schiebt er seine Brille seine Nase hoch. Dabei zeigt er mir – absichtlich oder nicht – den Stinkefinger und sein Gesicht verzieht sich zu einer furchterregenden Fratze. »Würde die junge Dame in … « Ich mache mich wieder unsichtbar. Er starrt mit offenem Mund zu dem Fleck, an dem ich vorher war und immer noch unsichtbar schwebe. »Äh, schon gut.« Er bemerkt Taylor, die zwischen ihren Müttern sitzt, und seine Gesichtszüge entgleisen vollkommen. Er sieht noch einmal in den hinteren Teil des Raums, nimmt seine Brille ab und poliert sie mit dem weiten Ärmel seiner Robe.
    »Verteidigung, Sie können Ihren ersten Zeugen aufrufen.«
    Das ist Rei.
    Rei muss schwören, dass er die Wahrheit sagt, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr ihm Gott helfe, und genau das tut Rei. Und das, obwohl der Staatsanwalt versucht, ihn zu irritieren, indem er die gleiche Frage leicht abgewandelt immer und immer wieder stellt. Rei ist wie ein Fels in der Brandung und lässt sich durch die obskuren Fragen nicht im Geringsten erschüttern.
    Taylors Freunde haben bei Seths Anwalt weniger Glück.
    »Sie hat das Handy nicht wirklich gestohlen«, sagt Vienna aus. »Sie hat es sich nur geliehen. Es war ein Scherz. Sie wollte es ihm wieder zurückgeben.«
    »Beantworten Sie die Frage nur mit Ja oder Nein. Hat Taylor Gleason das Handy von Seth Murphy ohne sein Einverständnis entwendet?«
    »Na ja, ja, aber … «
    »Das ist alles.«
    »Aber … «
    »Ich sagte, das ist alles.« Seths Anwalt hebt die zerknitterte Notiz hoch und zeigt sie der Jury. Dann liest er sie laut vor und hält sie schließlich Vienna hin. »Und hat Taylor Gleason Sie oder eine andere Freundin darum gebeten, diese Notiz an Seth Murphys Spind zu heften?«
    Vienna bricht in Tränen aus. »Sie ist tot! Mein Gott! Sie sollten nicht schlecht über sie reden! Können Sie nicht einfach nett sein?«
    Mitten am Morgen machen sie eine Pause. Alle strecken sich aus, verlassen die Bankreihen und gehen los, um ihre Blase zu entleeren, Kaffee zu trinken oder schnell eine Zigarette zu rauchen oder was auch immer sie machen.
    Rei scheint etwas anderes vorzuhaben.
    Taylor steht mit ihren Freundinnen zusammen. Sie beschimpfen Seths Anwalt dafür, dass er Vienna so schrecklich zum Weinen gebracht hat. Als Rei näher kommt, verstummen sie plötzlich und alle Augen richten sich auf ihn. Er sieht mit seinen aus dem Gesicht gekämmten Haaren sehr