Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
ohnmächtig wird. Und dann kann ich sie vielleicht, ganz vielleicht, aus meinem Körper schubsen. Ein anderer Teil, der Teil, der Rei beschützen will, möchte, dass er aufhört. Was, wenn sie behauptet, dass er sie erwürgen wollte? Was, wenn es ihm
gefällt
, sie zu küssen? Was, wenn es ihm gefällt,
sie
zu küssen?
Ich bin so nah bei ihnen, dass ich sehen kann, wie ihre Zunge an seinen Lippen vorbeigleitet. Die Rillen an den Gelenken seiner Daumen heben sich mehr und mehr hervor, während er langsam auf das sanfte Fleisch an ihrem Nacken immer stärkeren Druck ausübt.
Nur noch ein bisschen länger.
Plötzlich hört er auf. Er hört auf zu drücken. Er hört auf, sie zu küssen. Er lässt sie los und bückt sich, um seinen Rucksack aufzuheben.
»Ich kann das nicht tun«, sagt er fast entschuldigend.
Sie ist atemlos und ich kann ihren Herzschlag durch ihr dünnes Kleid hindurch sehen.
»Was? Warum?«
Er hält inne. »Wie kann ich einen Freund gegen den anderen eintauschen, Taylor? Damit könnte ich nicht leben.«
»
Was?
Willst du Seth etwa im Stich lassen?«
Rei zuckt mit den Achseln. »Er ist schon total am Boden. Entweder meine Freunde schaffen es, aus dem Schlamassel rauszukommen, oder ich gehe mit ihnen zugrunde.«
Aber das ist nicht der wahre Grund, warum er aufgehört hat. Ich bin mir sicher, dass er ihr die Wahrheit gesagt hat, aber ichkann sehen, dass er irgendetwas anderes hinter seinem Pokerface verbirgt.
Als sie abwesend ihren Nacken reibt, verwandelt sich ihr Ausdruck plötzlich von Ungläubigkeit in Traurigkeit, Wehmut und Sehnsucht.
»Rei?«
Rei wirft sich seinen Rucksack über die Schulter und zuckt mit den Achseln, so als hätte er sie nicht gehört. »Bis morgen«, sagt er und geht ohne sich umzudrehen aufs Haus zu.
Als ich beobachte, wie Taylor ihm dabei hinterhersieht, wie er sich immer weiter von ihr entfernt, wird mir etwas klar: Was Taylor auch für Rei empfindet, es ist mehr als Lust, mehr als Bedürftigkeit, mehr als der Wunsch, einen Mann zu besitzen wie andere ein Haustier. Sie bedrängt ihn nicht mit Drohungen oder einem Ultimatum. Sie sieht ihm nur mit Tränen in den Augen hinterher. Sie mag ihn wirklich.
Erst als er die Haustür hinter sich zugezogen hat, beginnen Tränen über ihre Wangen zu laufen. Sie dreht sich um und geht langsam auf mein Haus zu.
Ich warte in meinem Zimmer auf sie. Der Computer ist bereits hochgefahren und einsatzbereit.
Hallo Taylor.
Ich mache mich sichtbar, während ich tippe. Das Klicken der Tastatur lässt sie herumfahren.
»Oh. Du bist es.« Sie beißt auf ihrer Unterlippe herum. »Du bist wohl gekommen, um deine Schadenfreude auszukosten, weil Rei nichts von mir will.«
Es hat nichts mit dir zu tun. Es liegt an seiner Mutter. Sie denkt, dass ich nicht gut genug für Rei bin.
»Na ja, ich will ja nichts sagen, aber … ach, was soll’s.« Taylor zieht den neuen Schreibtischstuhl hervor, den meine Mum ihr gekauft hat, und setzt sich. »Warum denkt sie, dass du nicht gut genug für Rei bist?«
Schau dich mal um. Alkoholismus ist erblich. Und ich bin nicht gerade eine Leuchte in der Schule. Ihre Enkelkinder sollen bessere Gene vererbt bekommen.
Das scheint sie melancholisch zu machen. Ihre Aura färbt sich dunkler. »Aber ich habe mir alle deine Fotoalben angesehen. Du und Rei, ihr habt eine so lange Vergangenheit miteinander. Wie kann seine Mutter das einfach unter den Tisch kehren?«
Weil Rei ihr kleiner Junge ist und ich nur das nette Mädchen von nebenan. Außerdem kehrt sie nichts unter den Tisch – sie war immer sehr gut zu mir. Du weißt, wie schwierig es mit meinem Vater ist. Kannst du dir vorstellen, wie mein Leben ausgesehen hätte ohne Rei und seine Familie?
»Dein Vater macht mir eine Heidenangst!«
Ich weiß. Mir macht er auch Angst. Aber du hättest ihm nicht gleich eine Flasche auf den Kopf schlagen müssen. Du hättest einfach weglaufen können, er hätte dich sowieso nie eingeholt. Wenn du nicht wie er enden willst, solltest du übrigens auch besser nichts trinken.
Sie sieht mich mit einem hämischen Blick an. »Was willst du von mir, Anna? Ich habe alle deine Reisebroschüren gefunden und die Sachen, die du im Internet runtergeladen hast. Warum verziehst du dich nicht einfach an einen exotischen Ort und lässt mich in Ruhe?«
Was willst DU von mir, Taylor?
»Was ich will, ist doch wirklich nicht wichtig. Ich bekomme doch sowieso nie das, was ich will.« Sie atmet tief ein und lässt ihrer Frustration freien Lauf.
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