Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)

kaputtgeht, falls es nicht funktioniert.«
    Klar. Wir sind seit fast 17 Jahren befreundet. Warum sollten wir das gefährden?
    Was hältst du von Taylor?
    Rei wälzt sich auf den Rücken und starrt an die Decke. »Sie hat Angst. Sie glaubt, dass sie in der Hölle landen wird.« Er schließt die Augen und ist ruhig. Wahrscheinlich ist er eingeschlafen. Ich sammle genug Energie, um den Schalter seiner Nachttischlampe auszuknipsen. Jetzt erhellt nur noch der bläuliche Schimmer des Computerbildschirms den Raum.
    »Sie hat gesagt, dass sie nur einen Weg kennt, dich zu verlassen, und das ist ihr Tod«, sagt er plötzlich.
    Sie weiß nicht, wovon sie spricht. Ich mache mir nicht die Mühe, das zu tippen. Doch plötzlich fällt mir etwas ein.
    Sie muss nicht tot sein, um meinen Körper zu verlassen. Aber das weiß sie nicht. Sie kann ihren Körper nicht so loslassen, wie ich es kann. Ich kann sie zwar unmöglich überzeugen zu gehen, wenn sie es nicht will, aber …
    Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, wie wir sie schwächen oder außer Gefecht setzen können. Vielleicht würde das ihren Griff so sehr lockern, dass ich sie aus mir herausziehen könnte.
    Er rollt sich wieder auf die Seite und liest, was ich geschrieben habe. »Wie sollen wir das anstellen?«
    Ich habe keine Ahnung. Wie fest muss man jemandem auf den Kopf schlagen, damit er ohnmächtig wird?
    Rei sieht mich komisch an. »Das kommt darauf an«, sagt er vorsichtig. »Ich glaube aber, wir sollten ihr besser nicht auf den Kopf hauen. Das ist schließlich auch dein Kopf.« Er denkt nach. »Außerdem hat sie sich schon bei ihrem Sturz vom Schreibtischstuhl den Kopf angeschlagen. Hast du danach nicht auch versucht, in deinen Körper zurückzukommen?«
    Ja, aber da war sie noch bei Bewusstsein. Vielleicht müsste sie bewusstlos sein.
    »Warum kannst du nicht in deinen Körper zurück, wenn sie schläft?«
    Ich habe es versucht. Es funktioniert nicht.
    Rei reibt beim Denken mit dem Handknöchel auf seiner Oberlippe herum. »Kennst du dich mit Druckpunkten aus?«
    So wie bei Akupunktur?
    »So ähnlich. Aber Akupunktur ist eine Heilungsmethode. Wenn man zu fest auf einen Druckpunkt schlägt oder ihn zu lange drückt, ist das gefährlich. Das haben wir in Aikido gelernt. Das ist für die Abwehr wichtig.« Rei setzt sich mit gekreuzten Beinen auf und tätschelt eine Stelle vor ihm auf dem Bett. »Komm her.«
    Als ich ihm gegenübersitze, zeigt er oben auf meinen Kopf.
    »Das ist der
Tendo
-Punkt. Da sollte besser niemand zu fest hinschlagen.«
    Klingt logisch.
    Er führt seinen Finger herab bis zu einem Punkt auf der Mitte meiner Stirn, direkt an meinem Haaransatz. »Das ist der
Tento
-Punkt.« Dann wandert sein Finger zur Mitte meinerStirn bis kurz über die Augenbrauen. »Das ist der
Uto
-Punkt.« Den kenne ich. Das ist das Zentrum von Reis Verspannung.
    Sein Finger gleitet weiter zu einem Punkt zwischen meiner Oberlippe und meiner Nase, dann zu einer Stelle kurz unterhalb meiner Unterlippe, zu meiner Schläfe und zu einem Punkt hinter meinem Ohr. Dabei zählt er die japanischen Namen für jeden einzelnen Druckpunkt auf.
    Er fühlt nicht mehr als eine leichte Vibration unter seinen Fingern, aber ich spüre seine Berührung ganz deutlich.
    Es ist, als hätte ich einen Wachtraum.
    Ich versuche, die Realität zu verdrängen – die Tatsache, dass wir uns vielleicht niemals näherkommen werden. Und niemals wieder körperlich berühren können. Während er spricht, beobachte ich, wie sich seine Lippen ganz nah vor meinen Augen bewegen. Ich kann es mir nicht erklären, aber nach all diesen Jahren finde ich seine Lippen plötzlich unglaublich unwiderstehlich. Ist es, weil Taylor ihn geküsst hat? Taylor hat Rei mit meinem Mund geküsst. Wenn Taylor meinen Mund benutzt hat, um Rei zu küssen, hat sie mich dann um meinen ersten Kuss gebracht?
    »Anna, hörst du mir zu?«
    Ich sehe in seine unergründlichen Augen und nicke. Er führt seine Hand entlang der Vibration meiner Energie und legt sie auf den mir bekannten Punkt hinten an meinen Nacken, seine Finger auf der einen Seite und sein Daumen auf der anderen. Er räuspert sich. »Das hier ist der
Shofu
-Punkt.« Er bewegt seine Hand nach vorne, dorthin, wo mein Puls sein sollte. »Und das hier sind deine Hauptschlagadern. Wenn man dreißig Sekunden hier draufdrückt, wird man ohnmächtig.«
    Kann er meine Gedanken erraten? Ahnt er, dass ich hier herumschwebe und mich die ganze Zeit frage, wie es sich anfühlt, ihn zu küssen?