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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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darauf folgende Inferno hatte den Winter um den Schneepflug herum zum Schmelzen gebracht. Er stand jetzt im Zentrum des eigenen, angekohlten Frühlings.
    Das Gewehrknattern ging sporadisch weiter, aber es war nicht Kretow, der das Feuer erwiderte. Das waren Kisten mit Munition, die in der Kabine explodierten. Kretow selbst saß auf der Erde, vornübergeneigt mitten auf der Piste, neben der RP- 46, so tot wie seine Kameraden. Es sah aus, als wäre er erschossen worden, während er versuchte, das Maschinengewehr aufzustellen. Es war ihm gerade noch gelungen, es auf das Zweibein zu montieren, aber er hatte offenbar keine Zeit mehr gehabt, den Munitionszuführer zu öffnen und den Patronengurt einzulegen.
    Suworin ging zu ihm und berührte seinen Arm, worauf Kretow umkippte; die grauen Augen waren weit aufgerissen, und auf dem breiten, geröteten Gesicht lag ein Ausdruck des Erstaunens. Suworin konnte keine Wunde sehen, jedenfalls zuerst nicht. War der heldenhafte Speznaz-Major vielleicht einfach vor Angst gestorben?
    Ein weiterer lauter Knall aus der Richtung des Feuers ließ ihn aufschauen, und da sah er, daß der Genosse Stalin in seiner Generalissimus-Uniform ihn beobachtete.
    Der Generalsekretär stand ein Stück weiter die Piste hinauf vor dem Feuer, die linke Hand auf die Hüfte gestützt; mit der rechten hatte er fast beiläufig ein Gewehr geschultert. Sein Schatten war sehr lang im Verhältnis zu seinem gedrungenen Rumpf und tanzte und flackerte auf dem geschmolzenen Schnee.
    Suworin war, als würde ihm die Kehle zugeschnürt. Sie sahen einander an. Dann begann Stalin, auf ihn zuzumarschieren. Marschieren – das war der einzig richtige Ausdruck für die Art, auf die er sich bewegte, schnell, aber ohne Hast, mit vor dem massigen Brustkorb schwingenden Armen, links-rechts, linksrechts, paß auf, Genosse, jetzt komme ich!
    Suworin fummelte in seiner Tasche nach der Pistole, dann fiel ihm ein, daß er sie neben den beiden Toten liegengelassen hatte.
    Links-rechts, links-rechts – das lebende Banner, das den Schnee hochschleuderte…
    Suworin wagte es nicht, ihn auch nur eine Sekunde länger anzusehen. Er wußte, wenn er es täte, würde er sich nie mehr rühren können.
    »Weshalb flackern Ihre Augen so, Genosse?« rief die sich nähernde Gestalt. »Weshalb können Sie dem Genossen Stalin nicht ins Gesicht sehen?«
    Suworin schwang den Lauf der RP-46 herum, seine Erinnerung hetzte zwanzig Jahre zurück, zu seinem Wehrdienst, wie er zitternd auf einem gottverlassenen Schießstand am Stadtrand von Witebsk seine Übungen machte: Spannen der Waffe durch Zurückziehen des Verschlußhebels. Hinteren Visierträger zurückziehen und Verschlußdeckel hochklappen. Patronengurt mit der offenen Seite nach oben auf den Zuführer legen, so daß die erste Patrone einrastet, dann Deckel schließen. Abzug betätigen: die Waffe feuert…
    Er schloß die Augen und betätigte den Abzug, und das Maschinengewehr sprang in seinen Händen hoch und jagte ein Dutzend Kugeln in den zwanzig Meter entfernten Stamm einer Birke.
    Als er wieder einen Blick auf die Piste riskierte, war Genosse Stalin verschwunden.
    Wenn Suworin die Erinnerung nicht täuschte, dann enthielt der Patronengurt der RP-46.250 Schuß, die die Waffe mit einer Geschwindigkeit von etwa 600 Schuß pro Minute abfeuerte. Also blieben ihm, da er bereits einige davon verbraucht hatte, noch ungefähr 20 Sekunden Feuerkraft, mit der er 360 Grad Piste und Wald abdecken mußte, und das bei anbrechender Dunkelheit und einer Temperatur, die so weit absank, daß er in ein paar Stunden erfroren sein würde.
    Er mußte aus dem offenen Gelände heraus, soviel stand fest. Er konnte nicht so weitermachen, sich immer wieder im Kreis drehen wie eine angepflockte Ziege bei einer Tigerjagd, um in der Düsternis der Bäume etwas zu erkennen.
    Waren da nicht am hinteren Ende der Piste ein paar verlassene Hütten gewesen? Sie würden ihm vielleicht ein bißchen Schutz bieten. Er mußte zusehen, daß er irgendwo eine Wand im Rücken hatte; er brauchte Zeit zum Nachdenken.
    Im Wald heulte ein Wolf.
    Er löste das Maschinengewehr von seinem Zweibein und schwang sich den langen Lauf auf die Schulter; der Patronengurt hing ihm schwer am Arm, die Knie gaben unter dem Gewicht fast nach, die Füße versanken noch tiefer im Schnee.
    Wieder dieses Heulen aus voller Kehle. Das war kein Wolf, dachte er. Das war ein Mann – der Triumphschrei eines Mannes; ein Schrei nach Blut.
    Er machte sich auf den Weg,

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